Tokio Killer - 02 - Die Rache
Wirbel von Ellbogenstößen und trat zurück. Das Adrenalin war weitgehend verebbt, aber ich fühlte mich noch immer angespannt. Normalerweise sorgt Sport da für Abhilfe. Diesmal nicht.
Ich suchte mir einen Trainingspartner und übte noch eine Stunde lang Beinangriffe. Danach machte ich Stretching und ging unter die Dusche. Ich war froh, dass es bald vorbei sein würde.
2
Musik offenbart uns eine Vergangenheit,
von der wir bis dato nichts wussten, veranlasst uns,
Unglück zu betrauern, das wir nie erlitten,
und Sünden, die wir nie begingen.
Jorge Luis Borges
9
I N JENER N ACHT machte ich einen langen, ausgedehnten Spaziergang durch Tokio. Ich war ruhelos und hatte das Bedürfnis, mich zu bewegen, mich von den Strömungen der Stadt mitreißen zu lassen.
Ich wanderte von Meguro nach Norden, hielt mich in den Seitenstraßen, den Gässchen, auf menschenleeren Wegen in lichtlosen Parks.
Irgendetwas an dieser verfluchten Stadt zog mich immer noch an, verführte mich. Ich musste weg. Ich wollte weg. Verdammt, ich hatte es versucht. Und jetzt war ich schon wieder hier.
Vielleicht war das Schicksal.
Aber ich glaubte nicht an Schicksal. Schicksal war Blödsinn.
Was dann?
Ich gelangte zum Hikawa Jinja, einem der zahllosen Shinto-Schreine, die überall in der Stadt zu finden waren. Dieser Schrein zählte mit seinen schätzungsweise dreißig Quadratmetern zu den kleineren, aber er war noch längst nicht der kleinste dieser feierlichen grünen Flächen. Ich ging durch das alte Steintor, und sofort umfing mich wohltuende Dunkelheit.
Der Schrein war auf einer Anhöhe errichtet worden, und durch die Bäume drum herum konnte ich die Lichter von Hiro und dahinter die von Meguro sehen. Ich ging tiefer in die Finsternis hinein und setzte mich mit dem Rücken gegen den Honden, den symmetrischen Bau mit Ziegeldach, der den Gott dieses kleinen Schreins beherbergte. Ich schloss die Augen und atmete tief und langsam durch, dann lauschte ich eine Weile der Stille.
Als ich noch ein Junge war, wurde ich einmal in einem Laden in der Nachbarschaft beim Stehlen einer Tafel Schokolade erwischt. Die alten Leute, denen der Laden gehörte, kannten mich natürlich und sagten es meinen Eltern. Ich hatte fürchterliche Angst vor der Reaktion meines Vaters, und als er mich zur Rede stellte, stritt ich alles ab. Er wurde nicht böse. Er nickte nur langsam und erklärte mir, ein Mann müsse vor allen Dingen zu dem stehen, was er getan hat, und wer das nicht könne, sei ein Feigling. Ob ich das verstanden habe?, fragte er mich.
Damals begriff ich nicht wirklich, was er meinte. Aber seine Worte beschämten mich zutiefst, und ich gestand. Er ging mit mir zu dem Laden, wo ich eine tränenreiche Entschuldigung stammelte. In Anwesenheit der Besitzer war seine Miene streng, beinahe zornig gewesen. Doch als wir gingen und ich weiter geknickt vor mich hinschluchzte, zog er mich ganz kurz und unbeholfen an sich und ließ dann seine Hand sacht an meinem Hals liegen, bis wir zu Hause waren.
Ich habe nie vergessen, was er damals zu mir sagte. Ich wusste, was ich getan hatte, und ich stand zu allem.
Mein erster persönlicher Abschuss war ein Vietcong in der Nähe des Flusses Xe Kong an der Grenze zu Laos. In Vietnam sprach man von einem «persönlichen Abschuss», wenn man einen feindlichen Soldaten mit einem gezielten Schuss tötete und sicher sein konnte, dass man ganz allein der Schütze war. Ich war damals siebzehn Jahre alt.
Ich gehörte zu einem drei Mann starken Aufklärungsteam. Die Teams waren immer klein, und ihr Erfolg wie auch ihr Überleben hing davon ab, dass sie unbemerkt hinter den feindlichen Linien operieren konnten. Daher kamen nur solche Männer in Frage, die imstande waren, sich absolut still und leise zu bewegen. Für diese Einsätze wurden eher Gespenster gebraucht als Killer.
Es geschah bei Tagesanbruch. Ich weiß noch, dass ich den Nebel vom nassen Boden aufsteigen sah, als der Himmel sich allmählich lichtete. Ich fand das Land immer schön. Viele Soldaten hassten es, weil sie es hassten, überhaupt dort sein zu müssen, aber ich empfand das nicht so.
Wir waren seit zwei Nächten ohne Feindberührung im Einsatz gewesen und näherten uns dem Abholpunkt, als wir diesen Burschen entdeckten, der auf einer Lichtung stand, allein. Wir erstarrten und beobachteten ihn aus der Deckung der Bäume heraus. Er trug eine AK, daher wussten wir, dass er ein Vietcong war. Er ging auf und ab, schaute nach links,
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