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Tokio Killer - 02 - Die Rache

Tokio Killer - 02 - Die Rache

Titel: Tokio Killer - 02 - Die Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Eisler
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sind als vom Einfluss der Kultur. Manche besuchen Gräber. Andere sprechen mit Porträts oder Urnen auf dem Kaminsims. Wieder andere suchen Orte auf, die der oder die Verstorbene im Leben besonders geliebt hat, flüstern ein stilles Gebet in Gotteshäusern oder lassen zum Gedächtnis in irgendeinem fernen Land einen Baum pflanzen.
    Was sie alle verbindet, ist natürlich ein Gefühl jenseits aller Logik – dass die Toten das alles irgendwie mitbekommen, dass sie die Gebete hören können, die guten Taten sehen und die anhaltende Liebe und Sehnsucht spüren. Die Menschen finden das anscheinend tröstlich.
    Ich glaube nichts davon. Ich habe nie gesehen, wie eine Seele einen Körper verließ. Ich bin nie von einem Geist verfolgt worden, weder einem zornigen noch einem liebevollen. Ich bin nie von einem Reisenden aus diesem unentdeckten Land belohnt, bestraft oder berührt worden. Ich weiß so gut wie irgendetwas, dass die Toten ganz einfach tot sind.
    Einige Minuten lang blieb ich schweigend sitzen und widerstand dem Drang zu sprechen, weil ich wusste, dass es töricht war. Von meinem Vater war nichts mehr da. Und selbst wenn noch etwas von ihm da wäre, dann war es lächerlich zu glauben, dass es ausgerechnet hier wäre, zwischen Asche und Staub, und sich unter den Hunderttausenden Seelen anderer, die hier bestattet waren, hervordrängen würde.
    Menschen legen Blumen nieder, sprechen Gebete und glauben an all diese Dinge, weil sie dadurch die unangenehme Erkenntnis vermeiden, dass der Mensch, den sie geliebt haben, verschwunden ist. Da ist es leichter zu glauben, dass dieser Mensch vielleicht noch sehen und hören und lieben kann.
    Ich betrachtete den Grabstein meines Vaters. Für diesen Friedhof war er jung, knapp über vier Jahrzehnte alt, aber schon dunkel verfärbt von der Luftverschmutzung. Moos wuchs dünn und gefühllos an seiner linken Seite hoch. Ohne nachzudenken, streckte ich den Arm aus und fuhr mit den Fingern über die erhabenen Buchstaben des Namens meines Vaters.
    «Hisashiburi, Papa», flüsterte ich, sprach ihn so an, wie der kleine Junge es getan hatte, der ich gewesen war, als er starb. Es ist lange her, Papa.
    Vergib mir, Vater. Meine letzte Beichte war vor dreißig Jahren.
    Hör auf mit dem Quatsch.
    «Es tut mir Leid, dass ich dich nicht öfter besuchen komme», sagte ich mit leiser Stimme auf Japanisch. «Dass ich so selten an dich denke. Es gibt so viele Dinge, die ich auf Distanz halte, weil sie mir wehtun. Die Erinnerung an dich gehört dazu. Ehrlich gesagt, sie steht an erster Stelle.»
    Ich hielt einen Moment inne und nahm die Stille um mich herum wahr. «Aber du hörst mich ja sowieso nicht.»
    Ich sah mich um. «Das ist albern», sagte ich. «Du bist tot. Du bist nicht hier.»
    Dann ließ ich den Kopf wieder in die Hände sinken. «Ich wünschte, ich könnte es ihr begreiflich machen», sagte ich. «Ich wünschte, du könntest mir helfen.»
    Verdammt, sie war gnadenlos gewesen. Hatte mich als Hure bezeichnet.
    Vielleicht war es gar nicht ungerecht. Töten ist schließlich der ultimative Ausdruck von Hass und Angst, so wie Sex der ultimative Ausdruck von Liebe und Begehren ist. Und wie beim Sex ist das Töten eines Fremden, der ansonsten keinerlei Gefühl ausgelöst hat, im Grunde unnatürlich. Wahrscheinlich kann man sagen, dass ein Mann, der einen Fremden tötet, nicht viel anders ist als eine Frau, die unter vergleichbaren Umständen Sex hat. Dass ein Mann, der fürs Töten bezahlt wird, wie eine Frau ist, die fürs Ficken bezahlt wird.
    Auf jeden Fall erlebt der Mann den gleichen Widerwillen, die gleiche Abstumpfung, die gleiche Reue. Den gleichen Schaden an seiner Seele.
    «Aber Himmelherrgott», sagte ich laut, «ist es denn moralisch vertretbar, jemanden zu töten, den du nicht mal kennst, der wahrscheinlich ein einfacher Soldat ist wie du auch, bloß weil die Regierung es erlaubt? Oder wenn du eine Bombe aus zehntausend Metern Höhe fallen lässt, um die bösen Buben zu töten, und dabei Frauen und Kinder im Schutt ihrer eigenen Häuser begräbst, aber nichts dabei empfindest, weil du das Elend ja nicht sehen musst, ist das moralisch vertretbar?
    Ich verstecke mich wenigstens nicht hinter der Reichweite eines Granatwerfers oder hinter dem Cartoonbild im Infrarotzielfernrohr eines Präzisionsgewehres oder hinter den Orden, die sie dir anschließend umhängen, um dir zu versichern, dass das Gemetzel gerecht war. Dieser ganze Scheiß ist eine Illusion, ein Schlafmittel, das man

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