Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
entziehen sich jeder Entscheidungsmöglichkeit. Manche Taten haben eine solche Macht und eine solche Nachwirkung, dass sie zu deinem Wesen werden und alles andere, was du tust, in den Hintergrund drängen. Delilah verstand das nicht. Da ein Teil von mir sie gern hatte und immer gern haben würde, war ich froh, dass sie sich solche Illusionen erlauben konnte. Eines konnte und wollte ich jedoch nicht: sie mit ihr teilen.
Ich machte ohne große Hoffnung an einem Internetcafé halt und sah in Kanezakis Bulletin Board nach. Noch immer nichts. Ich starrte einige Augenblicke lang auf das leere Textfeld.
In einem anderen Café sah ich nach, ob Hilger bereits etwas geschickt hatte. Die Nachricht war da, wie ich erwartet hatte. Ich war nicht überrascht und würde mir einfach die nächste Zielperson vornehmen. Es kam mir ganz normal vor. Wie Schicksal. Ich lächelte wehmütig in mich hinein. Siehst du?, dachte ich, als würde ich mit Delilah reden. Siehst du?
Ein Name: Michael Accinelli. Ein Zeitplan: wieder fünf Tage. Scheiße. Ich fragte mich, was die kurzen Fristen zu bedeuten hatten. Im Moment war das unmöglich zu sagen. Aber wahrscheinlich konnte ich froh sein, dass Hilger mir nicht noch weniger Zeit einräumte, nachdem ich die Sache mit Jannick so schnell über die Bühne gebracht hatte.
Die Informationen umfassten eine Firmenadresse in Mineola, New York, und eine Privatadresse in Sands Point, New York. Beide Orte sagten mir nichts. Telefonnummern. Fabrikat und Modell der Autos, die er fuhr – einen Mercedes S 600, Baujahr 2007, und einen Range Rover HSE desselben Baujahrs – samt Kennzeichen. Eine Reihe Fotos von einem fit aussehenden Mann Ende fünfzig, mit dichtem stahlgrauen Haar und dunklen stechenden Augen. Auf einem der Schnappschüsse trug Accinelli einen offensichtlich teuren anthrazitfarbenen Nadelstreifenanzug, ein weißes Hemd mit Spreizkragen, eine marineblaue Krawatte und ein weißes Leineneinstecktuch. Er hatte die Hände auf einem Knie gefaltet und saß leicht vorgebeugt, mit einem selbstbewussten Lächeln. Ganz das Bild eines Vorstandsvorsitzenden, und ja, das Foto sah wirklich aus wie einer Firmenbroschüre oder einer Webseite entnommen. Auf den anderen Fotos stand er in ähnlicher Businesskluft hinter einem Rednerpult, vermutlich auf einer Aktionärsversammlung oder irgendeiner anderen Wirtschaftsveranstaltung.
Ich googelte ihn. Der erste Treffer war ein Unternehmen namens Global Pyrochemical Industries, und siehe da, gleich auf der Homepage prangte das Foto von Accinelli im anthrazitfarbenen Anzug. Er war tatsächlich der Vorstandsvorsitzende und obendrein der Geschäftsführer. Ich klickte seine Vita an: 1950 geboren und aufgewachsen in Oyster Bay, Long Island; Studium in West Point, 1972 Abschluss mit Auszeichnung; Soldat in Grenada, Panama und im ersten Golfkrieg, für Panama mit dem Silver Star ausgezeichnet; nach zwanzig Dienstjahren im Rang eines Colonel aus der Army ausgeschieden. Gründete GPI im Jahre 1993, ging 2001 an die Börse.
Das mit dem Irak machte mich stutzig. Auch Hilger hatte dort gekämpft. Es konnte Zufall sein, es konnte aber auch eine Verbindung sein. Ich gab Hilger/Accinelli ins Suchfeld ein. Nichts. Ebenso wenig Jannick/Accinelli und Jannick/Hilger. Na ja, vielleicht hatte Kanezaki mehr Erfolg.
GPI beschrieb sich als Spezialchemieanbieter für Unternehmen in aller Welt. Es hatte vier Produktlinien: Zwischenprodukte für die Pharmazie; Automobil-Airbags; zellulosische Chemiefasern sowie Pyrotechnik und Militär. Das meiste sagte mir nicht viel, nur mit den Airbags und den diversen militärischen Einsatzmöglichkeiten wusste ich etwas anzufangen: Raketenantrieb, Sprengstoff, Weiß-Phosphor-Granaten.
Ich informierte mich über seinen Wohnort und den Firmensitz. Mineola lag auf Long Island, gut fünfundzwanzig Meilen östlich von Manhattan. Sands Point lag zehn Meilen nördlich von Mineola, am Nordufer von Long Island an der Spitze der Halbinsel Port Washington. Mineola klang durch und durch nach Mittelschicht; Sands Point dagegen war anscheinend das Vorbild für den Ort East Egg in Der große Gatsby. Fitzgeralds Villa stand noch immer, wie ich feststellte, auf der Hoffstots Lane, und konnte zurzeit für 28 Millionen Dollar erworben werden. Offenbar hatte Accinelli mit GPI gutes Geld verdient. Er lebte in Sands Point bestimmt nicht von seiner Soldatenpension.
Manhattan erinnerte mich an Midori, die mit unserem Sohn Koichiro in Greenwich Village wohnte. Er musste
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