Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
so passierte. Wo ich von den Auswirkungen, den Folgen dessen gelesen hatte, was ich mit Jannick gemacht hatte.
Ich öffnete die Dose mit braunem Lack und machte weiter. Inzwischen lieferte die Sonne einen Hauch Wärme in der ansonsten frostigen Luft. Midoris Eltern waren tot, und sie hatte keine Geschwister. Wenn ihr irgendetwas zustieß, bei wem würde Koichiro dann bleiben? Außer Midori wusste keiner, dass ich sein Vater war. Und selbst wenn es jemand wusste, wie sollte er mich finden? Was würde dann aus meinem Sohn werden? Wer würde sich kümmern?
Meine Hand verharrte in der Bewegung, und ich stand einen Moment lang völlig reglos da, überwältigt von einer plötzlichen Erkenntnis. Sie war die ganze Zeit direkt vor meiner Nase gewesen, und ich hatte sie übersehen. Ich hatte mich zu sehr auf die CIA-Gelder für Jannicks Firma konzentriert, weil ich sie als die nächstliegende Verbindung eingestuft hatte. Das war das Problem. Denn vielleicht hatte ich mich von einer Zufälligkeit ablenken lassen.
Wer würde sich kümmern? In dem Artikel hieß es, dass Angehörige Jannicks Frau und Rindern zur Seite standen. Aber wer? Großeltern? Brüder? Schwestern? Onkel? Tanten? Wer auch immer, sie waren wie Figuren auf einem Schachbrett, und Jannicks Tod hatte sie neu positioniert. Vielleicht ging es Hilger ja in Wirklichkeit um diese neuen Positionen.
Ich war mit dem Anstreichen fertig. Sobald die Farbe trocken war, packte ich das Rad in den Kofferraum und fuhr zur Stadtbücherei von Great Neck, wo ich eine Nachricht an Kanezaki ins Bulletin Board stellte: Welche Angehörigen kümmern sich derzeit um Jannicks Familie? Eltern, Geschwister, wer auch immer. Namen, Adressen, vor allem was sie beruflich machen. Abgleichen mit allem, was wir sonst haben. Hilger könnte es um einen Nebeneffekt gehen.
Die nächsten achtundvierzig Stunden verliefen ereignislos. Ich beschattete Accinelli wie gehabt, doch er blieb tagsüber im Büro und fuhr abends immer direkt nach Hause. Ich schätzte, er hatte zu viel um die Ohren für ein Schäferstündchen, oder ihm fiel kein glaubhafter Vorwand ein. Kanezaki meldete sich. Er teilte mir mit, dass er meinen Hinweisen nachging, aber das war auch schon alles.
Allmählich wurde ich unruhig. Hilger hatte mir fünf Tage gegeben, und mir blieb nur noch einer. Ich überlegte, ob ich Kontakt zu ihm aufnehmen und noch einmal verlangen sollte, mit Dox zu sprechen. Aber ich entschied mich dagegen. Hilger hatte ihn bestimmt noch verschont: Er brauchte ihn, zumindest bis ich Accinelli erledigt hatte. Außerdem wäre es im Augenblick zu einfach für ihn, nein zu sagen. Ich war ihm nicht gänzlich ausgeliefert, aber die wenigen Druckmittel, die ich hatte, musste ich sparsam einsetzen.
Am Morgen des letzten Tages wartete ich im BMW nicht weit vom Sara D. Roosevelt Park, knapp zehn Blocks von dem Apartmenthaus auf der Mott Street, und starrte auf das Display im iPhone. Ich saß da, seit ich Accinelli wie immer zum Büro gefolgt war, und bislang hatte er sich nicht von der Stelle gerührt. Mittlerweile war es nach elf, und ich spielte schon mit dem Gedanken, Hilger anzurufen, um ihm zu sagen, dass ich mehr Zeit brauchte. Und plötzlich, einfach so, setzte sich das kleine Licht, das Accinellis Wagen auf dem Display markierte, in Bewegung. Komm schon, dachte ich. Komm schön her. Gönn dir ein bisschen Vergnügen in deiner Mittagspause.
Ich sah, dass er auf dem LIE Richtung Westen fuhr, dann auf den Brooklyn-Queens Expressway. Als er auf die Williamsburg Bridge zusteuerte, war ich mir sicher.
Ich befestigte den kleinen Seitenspiegel an meiner Sonnenbrille und stieg aus dem Wagen. Fast jeder Quadratzentimeter von mir war mit irgendetwas bedeckt: Thermounterwäsche, Arbeitsschuhe, Rollkragenpullover, Marinejacke, Balaklava, Neoprenhandschuhe. Ich hängte mir das Kettenschloss um den Hals, stülpte den Fahrradhelm über die Balaklava und stellte den Karton mit den Verpackungschips auf die Erde. Ich holte das Rad aus dem Kofferraum, lehnte es gegen den Wagen und sah mich um. Im Park spielten ein paar Jugendliche Basketball. Auf einer Straße in der Nähe war eine Baustelle. Niemand beachtete mich. Ich wartete auf eine Lücke im Verkehr, und als auch der unregelmäßige Strom von Passanten dünner wurde, hob ich den Karton an einem auf dem Deckel befestigten Plastikriemen auf und schob das Rad vom Wagen weg. Der Karton war groß und unhandlich, aber da er nur mit Styropor gefüllt war, wog er praktisch
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