Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr
steckte sie zurück in die Tüte und löste den Knick in der Hauptleitung. Ich schloss ihm die Augen und saß bei ihm, hielt seine Hand, fühlte mich leer und elend und allein.
Nach einigen Minuten beugte ich mich vor und küsste ihn auf die Stirn. »Sei bei deinem Sohn«, sagte ich.
Ich holte tief Luft, drückte ihm die Elektrode wieder auf die Brust und stand auf.
Gleich darauf kam die Krankenschwester hereingestürzt. »Irgendwas stimmt nicht«, sagte ich. »Ich glaube, er atmet nicht mehr.«
Sie eilte um das Bett herum und fing an, sich so hektisch um ihn zu bemühen, dass sie nicht einmal merkte, wie ich leise den Raum verließ.
54
I CH GING IN EINE B AR , die ich mochte, in einer kleinen Straße in Ginza. Das Heartman ist ein altes, aber elegantes Lokal mit Mahagonitäfelung und gedämpftem Licht. Die Barkeeper sind ganz seriös mit Faltenhemd und schwarzer Fliege. Cocktails sind ihnen eine Herzensangelegenheit, und die Auswahl an Single Malts ist ausgezeichnet. Genau das brauchte ich jetzt.
Ich rief Dox an, als ich dort war, und sagte ihm, wo er mich finden konnte, wenn er wollte.
»Wie ist es in New York gelaufen?«, fragte er.
»Gut. Sie sind alle tot.«
Irgendwas an meinem Tonfall hielt ihn anscheinend davon ab, im Augenblick noch weiter nachzufragen. Er sagte: »Rufst du Delilah an? Sie ist noch hier.«
»Ich will sie nicht sehen. Wenn du kommen willst, komm allein.«
Ich fuhr mit dem Aufzug in den sechsten Stock und betrat die Bar. Die beiden Barkeeper verbeugten sich, als ich hereinkam, und begrüßten mich mit einem leisen »Irasshaimase« . Ich sagte, ich hätte gern den Tisch am Fenster, und jemand geleitete mich dorthin. Richtig voll ist es im Heartman erst nach Mitternacht, und im Augenblick war ich der einzige Gast.
Ich bestellte einen sechzehn Jahre alten Lagavulin, pur. Ich trank ihn in kleinen Schlucken und beobachtete die ruhige Straße unter mir. Ich konzentrierte mich auf den Geschmack, den Geruch, das Gefühl in der Kehle. Ich versuchte, nicht nachzudenken.
Dox traf fünfundvierzig Minuten später ein. Ich hatte soeben meinen vierten Lagavulin bestellt und war wohltuend benommen.
Er setzte sich mir gegenüber. »Soll ich das Gleiche bestellen wie du, oder ist das wieder das Zeug, das nach Medizin schmeckt?«
»O ja, es ist Medizin«, sagte ich.
Er wandte sich an den Kellner. »Ich nehme einen doppelten Stoli auf Eis. Nein, lieber einen dreifachen. Ich glaube, ich hab hier einiges aufzuholen.«
Ich übersetzte, sagte dann: »Ich hätte nicht gedacht, dass du noch da bist.«
»Wo sollte ich denn sonst sein?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Wo du lebst. Wo immer das auch ist.«
»Zufällig überlege ich, meinen Wohnsitz an einem Ort in Bali aufzuschlagen. Es gefällt mir dort. Und der kleine Gewinn, den wir in Wajima gemacht haben, müsste mir die Dinge erleichtern. Aber ich dachte, ich bleibe vorher noch ein Weilchen in Roppongi. Außerdem hatte ich gehofft, dass du zurückkommst und wir uns nochmal sehen können.«
Der Kellner brachte unsere Drinks und entschwand wieder.
»Cheers«, sagte Dox.
Wir stießen an. Dox kippte gut zwei Drittel von seinem Wodka in sich hinein und stieß einen langen, zufriedenen Seufzer aus. Er lehnte sich zurück und sagte: »Erzählst du mir, was in New York passiert ist?«
Ich erzählte ihm alles. Ich kam mir dabei irgendwie von allem losgelöst vor, so als würde ich jemand anderem zuhören. Das musste am Alkohol liegen.
Als ich fertig war, sagte er: »Du liebe Scheiße, Mann. Tut mir leid, das zu hören. Ehrlich.«
Ich nickte und trank mein Glas leer. Dox tat es mir gleich und signalisierte dem Kellner, noch zwei Drinks zu bringen.
»Aber«, fuhr er fort, »sie sind jetzt in Sicherheit. Und da Yamaoto tot ist, bist du es auch.«
»Ja«, sagte ich. »Sie sind in Sicherheit.«
»Ich will damit sagen, hab Geduld. Du bist der Vater des Jungen, und daran wird sich auch nichts ändern. Eines Tages wird Midori schon wieder zur Vernunft kommen. Sie ist jetzt stocksauer, ist ja auch klar, aber das wird nicht ewig so bleiben. Blut ist eine große Macht, Partner.«
Ich lachte freudlos. »Witzig, so was Ähnliches hat sie auch mal gesagt.«
Der Kellner kam mit den Getränken. Er sammelte unsere leeren Gläser ein und ging wieder.
Dox nahm einen Schluck und sagte: »Ich weiß, was mit dir und Delilah los ist, Mann.«
Ich blickte ihn an. »Was weißt du?«
»Dass ihr einmal zu oft aneinander vorbeigeredet habt.«
»So nennst du
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