Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Augen halb geschlossen,
zählten ihre Atemzüge und dachten an möglichst gar nichts.
Wie die anderen es machten, weiß ich nicht, aber mir gelang es während des ganzen Jahres nicht, wirklich zu meditieren. Kaum hatte ich eine Weile meine Atemzüge gezählt, ging mir wieder der Alltag im Kopf herum. Außerdem hatte ich anfangs nicht verstanden, dass ich die Augen ein Stück offen halten sollte, und machte sie zu. Das erhöhte die Gefahr des Einschlafens beträchtlich, so dass der Priester öfter mit seinem Stock neben mir mahnend auf die Matten klopfte.
Der Priester trug eine verwaschene gelbe Robe und hatte den Kopf rasiert. Er war ein humorvoller Typ Anfang fünfzig. Ich freute mich, dass er mich nicht nur an den wöchentlichen Zentreffen teilnehmen ließ, sondern auch zum Plaudern einlud.
Viele junge Japanliebhaber finden Zen ganz toll. Bei den meisten, wie bei mir, kühlt sich das Interesse dann ab. Ich l ächelte schon zu Fukui-Zeiten über die Amerikaner Anfang zwanzig, die in Kioto in den Tempel eintraten und in Mönchsgewändern bettelnd durch die Stadt liefen. »Meistens hält das nur ein halbes Jahr, dann sind sie wieder zu Hause in Kalifornien. Aber sie zahlen gut«, erzählte mir der Tempelpriester. Für ihn war Zen harte tägliche Arbeit. Er nannte die Meditation »Training«, und er musste den Tempel als Chef am Laufen halten. Geld vom Staat gibt es nicht, so dass er praktisch einen mittelständischen Betrieb unterhielt - Produkt: spirituelle Dienstleistungen.
Ich war froh, mich zum Meditieren einfach dazusetzen zu können. Vorher hatte ich schon befürchtet, der Zugang werde
schwerer sein. Ein älterer Landeskenner erzählte mir, wie er bei seinem ersten Aufenthalt das Töpfern hatte erlernen wollen. Der Meister führte ihn in die Werkstatt und zeigte ihm einen Reisigbesen. »Im ersten Jahr darfst du die Werkstatt fegen. Im zweiten Jahr lassen wir dich dann vielleicht den Ofen reinigen, wenn du dich beim Fegen als würdig erwiesen hast. Schon im dritten Jahr darfst du möglicherweise den Ton berühren.« Mein Bekannter lehnte dankend ab.
Unser Priester erzählte von Anfang an ausführlich vom Zen, obwohl das wahre Zen sich Worten entzieht. (Ich verstehe bis heute nicht, wie das zusammenpasst.) »Alles ist miteinander verbunden. Auch die Kohlköpfe dort« - er wies durch in den Tempelgarten - »sind eins mit dir, du weißt das bloß nicht.«
»Hnnnnnnn«, machte ich die erforderlichen Laute des Erstaunens.
»In dem Moment, wo wir die Unterscheidung zwischen uns und dem Weißkohl aufgelöst haben, erreichen wir die Erleuchtung«, erklärte er. »Und wenn es keine Unterscheidungen gibt, dann ist alles nichts. Denn Dinge existieren nur durch ihre Abgrenzung von anderen Dingen, zumindest in unserer Illusion.« Das Verständnis von der grundlegenden Nichtigkeit der Welt war für mich fortan mit Weißkohl verbunden.
Irgendwann wagte ich eine knifflige Frage: »O-Shô-san, sind Sie selbst eigentlich erleuchtet?«
»Wenn ich jetzt sage, ich bin erleuchtet oder nicht erleuchtet, ist das schon ganz falsch«, sagte der Priester fröhlich. So unklar endet es immer, wenn ein Zen-Meister eine klare Frage beantworten soll.
Kenji kam zu Besuch nach Fukui. Als ich ihn am Busbahnhof abholte, fiel mir der Blick auf, mit dem er seine Umgebung betrachtete. Ich sah den Platz plötzlich mit den Augen des eleganten Tokioters. Vor Fukuis Geschäftszeilen waren Vordächer aus grobem Wellblech angebracht. Braunrote Roststreifen liefen an ihren Stützpfeilern hinab. Viele Geschäfte waren geschlossen und hatten gewellte Rollläden heruntergelassen, an denen Fetzen von Aufklebern und Plakaten hingen. Japan ist eines der reichsten Länder der Welt, legt jedoch nicht immer Wert auf Dekoration.
»Schön hier«, sagte Kenji, und es sollte unmissverständlich heißen: Was für ein trostloser Ort. Du kannst dankbar sein, dass ich aus Tokio, dem Nabel der Welt, hierher zu dir komme.
Miguel, Yusuke, Akiko und ich nahmen Kenji abends mit zu Yakitori bei Akiyoshi, einem Hühnerspießchenladen. Yakitori-Restaurants stecken nicht einfach nur Fleisch auf Spieße. Sie verarbeiten praktisch das ganze Huhn außer Kopf und Federn. Akiyoshi reichte auch Spieße mit Knorpel, Fett oder Anus. Er grillte auch sonst alles, was sich auf Bambusspießchen stecken ließ, etwa Okraschoten, Käsestücke oder Lotoswurzeln. Dazu floss ständig Bier in eiskalt angelaufene Halblitergläser. Im Erdgeschoss bei Akiyoshi saßen die Gäste an einer Theke
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