Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Befehlston.
Ich schluckte, schwärzte den Finger und drückte ihn in das vorgesehene Feld. Er guckte missbilligend, ich hatte geschmiert.
»Sooo, das macht dann 6000 Yen, bitte bezahlen Sie den Vorgang mit diesem Formular bei einer Bank oder einem Postamt.«
6000 Yen waren 45 Euro. Für das Überfahren einer Fahrbahnmarkierung vor einer Ampel!
»Ich werde es bestimmt nicht wieder tun«, sagte ich.
»Und schön vorsichtig weiterfahren, wir stehen heute in dieser Gegend an jeder Ecke.«
Während ich die Scheibe hochgleiten ließ, hörte ich ihn noch mumeln: »Also wirklich, ein Deutscher, und fährt über eine gelbe Linie …«
Harmlos bis es weh tut oder Verteidigung ist der beste Angriff
Durch den immer noch guten Zusammenhalt in der Gesellschaft ist Japan das sicherste unter den großen Ländern dieser Welt. Die Kehrseite des Segens ist jedoch die extrem konservative Gesellschaft, die ziemlich nerven kann.
In Japan ist Raub sehr selten, Morde kommen fast nicht vor, und wenn ich mal irgendwo meinen Fotoapparat liegen ließ, kam jemand hinter mir her gerannt und entschuldigte sich mit Verbeugungen dafür, mich mit der Rückgabe der Kamera zu behelligen. In der Landstadt Fukui hatte damals niemand die Tür abgeschlossen. Die Tokioter schließen zwar ab, doch selbst in den überfülltesten U-Bahnen klaut keiner einem das Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche.
Die Erklärung für diese allgemeine Sicherheit ist eine Mischung aus einer intakten Gesellschaft und straffer Aufsicht durch die Polizei. Das umliegende Asien gilt den Japanern daher als Gebiet voller Gefahren, wo die Restaurants sie abzocken und sie vom Leitungswasser Durchfall bekommen. Deutschland hat dagegen einen unverschämt guten Ruf. Die Hausfrau Mutsuko Fukumitsu schrieb einer Zeitung als Antwort auf die Frage »Wo würden Sie sich - in einer perfekten Welt - nach der Pensionierung niederlassen?«:
»In Deutschland, weil es so ein sauberes und schönes Land ist mit viel Natur. Deutschland hat ein reiches Kulturleben, und wir können andere europäische Länder einfach mit dem Auto oder Zug erreichen.«
Danke, Fukumitsu-san!
Obwohl: sauber? Deutsche Städte wirken zwar aufgeräumter als japanische, schon weil keine Oberleitungen vor den Häuserfronten hängen und die höhere Macht der Bauaufsicht auf ein einheitliches Stadtbild achtet. Aber sauberer?
In der Megametropole Tokio glänzen alle U-Bahn-Scheiben durchsichtig und klar. Auch wer ganz genau hinguckt, entdeckt keine Kratzer. Die Sitze sehen auch in den älteren Wagen noch aus wie neu. Auf dem Fußboden liegt kein Fetzchen Taschentuch, und durch den Wagen rollt kein Kaffeepappbecher. Niemand verschüttet Cola, und keiner spritzt sich Heroin. Da sieht es in Deutschland anders aus, oder?
Im japanischen Gegenstück zu den Tagesthemen kam mal ein Beitrag über eine Mittelschule in Hokkaido, an deren Außenwand jemand »beleidigende und obszöne Ausdrücke« mit »schwarzer Farbe aus einer Spraydose« gesprüht hatte. Die Bilder zeigten allerdings nur eine makellos gelbe Schulwand, weil der Hausmeister die Untat schon in den frühen Morgenstunden überstrichen hatte. »Es lässt sich nicht ausschließen, dass einer unserer Schüler der Täter war«, sagte der Schulleiter. An einem anderen Tag kam groß die Nachricht, dass der »Dosenstehenlasser« gefasst sei. Das betraf einen Oberschüler, der beim Austragen der Zeitung in den Morgenstunden immer leere Getränkedosen am Straßenland hatte stehen lassen, statt sie korrekt zur Entsorgung zu geben. Auch hier
zeigte das Fernsehen die Entrüstung der Anwohner über so viel Verkommenheit. Was würde Japan mit einer Neuköllner Hauptschule anfangen? Schon ein Graffiti und etwas stehen gelassener Müll füllen hier viele Sendeminuten voller Betroffenheit und der Suche nach den Ursachen - da sind Probleme, wie sie einige Berliner Hauptschulen kennen, gar nicht vorstellbar. Sie würden in den Augen der Japaner wohl den Untergang des Morgenlandes bedeuten.
Damals in Fukui war mal mein Fahrrad verschwunden. Ich kam mit Akiko aus einer Izakaya, da stand es nicht mehr dort, wo ich es abgestellt hatte. Gestohlen, dachte ich, und zog mit Akiko zur Polizeibox, wo sich der Wachtmeister stellvertretend für ganz Japan bei mir entschuldigte.
Am nächsten Tag rief mich die Polizei an, sie habe mein Fahrrad wiedergefunden und den Dieb gestellt. Ich zog zur Polizeiwache, und tatsächlich bekam ich dort mein Rad wieder.
Es war gar nicht gestohlen
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