Tokio Total - Mein Leben als Langnase
dem ganzen Land liefern. Der Händler aus Osaka erbat sich das Recht, den Inhalt der Schöpfkellen an den Prüfstationen behalten zu dürfen. Es reihten sich eine Menge Prüfstationen auf dem langen Weg in die Hauptstadt. Der Prüfreis wurde zu einer ergiebigen Einnahmequelle für den Händler.
Heute müssen die Japaner keine Angst mehr vor einem Feudalherrscher haben, und trotzdem gehen sie noch sehr behutsam miteinander um. Das Wort »sanftmütig« trifft es am besten: yasashii. In Umfragen sagte eine Mehrheit der jungen Frauen, sie wünsche sich ihren Partner yasashii. »Sanft« ist wichtig.
In der deutschen Presse habe ich den Fall eines Rentners verfolgt, den ein Gericht lebenslänglich hat einsperren lassen. Der 66-Jährige hat seine drei Gartennachbarn mit einem Knüppel erschlagen, weil sie offenbar ihren Müll nicht richtig weggeworfen hatten. Zwar ein ziemlicher Extremfall, aber im Kern nicht ganz untypisch für den Umgang miteinander - fand ich. Laute Worte oder rohe Gewalt nur aus Rechthaberei kommen in Japan dagegen praktisch nicht
vor. Die meisten Japaner verhalten sich insgesamt viel weniger aggressiv als Deutsche. Sie zeigen bei weitem keine so gewaltbereite Körpersprache. Einmal habe ich erlebt, wie es in einer Izakaya knallte und zwei Besoffene aufeinander losgingen. »Hey, ihr belästigt andere Gäste!«, rief der Chef des Ladens. Zu meinem Erstaunen ließen sie sofort voneinander ab. Der eine drehte sich zu unserem Tisch um und verbeugte sich. »Bitte verzeihen Sie die Belästigung!«
Auch sonst wirkt Japan insgesamt ziemlich harmlos. (Das gilt jedenfalls, solange einer sich nicht mit der Mafia anlegt.) Nach fünfzehn Jahren der Beschäftigung mit der japanischen Sprache hielt ich die Zeit für gekommen, auch mal ein paar schmutzige Schimpfwörter zu lernen. Ich fragte Tsuyoshi nach Flüchen, so richtig von der Straße.
»Chô-Beriba«, sagte er und erklärte mir das Zustandekommen. »Beriba« steht für »very bad«, und »chô« ist eine japanische Vorsilbe für »extrem«.
»Tsuyoshi, ihr müsst doch auch etwas richtig Schmutziges haben.«
Er überlegte. »Ich hab’s, aber du musst versprechen, es nicht zu benutzen. Als Ausländer kannst du die Wirkung nicht einschätzen.«
»Sag’s einfach.«
»Kimoi.«
»Ist das alles? Das heißt doch einfach nur: fühlt sich schlecht an.«
»Du kennst das?«
»Bitte, es muss doch irgendein wirklich … unanständiges Wort geben auf Japanisch.«
Tsuyoshi schlug noch vor: »urusai« und »shitsukoi«, die beide auf Deutsch heißen »du nervst«. Dann rückte er noch heraus mit »shineba ii«, was bedeutet: »Stirb doch«. Das ist zwar knallhart, aber auch nicht fäkal oder sexuell, wie wir die Schimpfworte im Westen lieben.
Ich gab auf. Die Japaner kennen einfach noch nicht mal zünftige Schimpfworte vor lauter Harmoniesucht.
Die Sicherheit, die das Land bietet, hat allerdings eine Kehrseite: Japans knallharte Justiz. Im Kleinen wehrt der Staat durch vergleichsweise harte Strafen den Anfängen. Im Großen schafft er durch eine hohe Zahl von Verurteilungen die Illusion, dass alle Missetaten früher oder später herauskommen.
Zwar urteilt die Justiz grundsätzlich unabhängig. Doch die eine oder andere Nachricht irritiert mich ziemlich. Da ist beispielsweise der Richter, der Reue über ein Todesurteil zeigt, das er seit dreißig Jahren für falsch hält. Der Verurteilte sitzt allerdings immer noch in der Todeszelle. Ein Tokioter Justiz-Kenner sagte mir, Japans Richter fühlen sich nicht als Gegengewicht, sondern als Teil des Systems und stützen nach Möglichkeit den Staat. Klagen vor dem Obersten Gericht gegen Gesetze seien meist aussichtslos. Die Richter fällen so gut wie nie Urteile, die die bestehende Ordnung in Frage stellen.
Die Aufklärungsquote von Kriminalfällen liegt in Japan deutlich über 90 Prozent. In Deutschland liegt die Gesamtaufklärungsquote laut Bundeskriminalamt bei 55 Prozent. Entweder sind also Japans Polizei und Gerichte um ein Vielfaches erfolgreicher als die deutschen oder in Japan sitzen
mehr Unschuldige im Knast. Meiner Meinung nach stimmt von beidem etwas.
Richter außer Dienst Norimichi Kumamoto bereut. Er ist heute 70 Jahre alt. Schon 1968 gab er seine Karriere auf - nur wenige Monate nachdem er in einem Mordprozess dem vorsitzenden Richter zugestimmt hatte, einen Mann in die Hinrichtungszelle zu schicken. Die Kammer verurteilte damals den Profiboxer Iwao Hakamada wegen Mordes zum Tode. Im März 2009 ging
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