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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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eben doch einen guten Teil der Kriminalität im Westen aus.
    Japaner zeigen sich ihrerseits etwas naiv, wenn sie von ihren schönen Inseln aus woandershin fliegen. Als ich einen
japanischen Geschäftsmann in meinem Alter beim Umsteigen durch den Frankfurter Hauptbahnhof lotste, fragte der mit dem Seitenblick auf eine der Gestalten am Boden: »Der Mann da, das ist sicher ein Diabetiker, der sich Insulin spritzt?«

    Die Weltmetropole Tokio zeigt sich auch im Kleinen obrigkeitstreu. Akiko und ich liefen abends nach einem Kunstereignis in Richtung des Bahnhofs Shinagawa, als vor uns eine völlig vereinsamte Fußgängerampel auf Rot schaltete. Wir blieben stehen und warteten sehr, sehr lange auf Grün, während kein Auto zu sehen war, geschweige denn ein Polizist. Akiko machte keine Anstalten, einfach rüberzugehen. Neben uns warteten ebenso gefügig noch zwei angetrunkene Büroangestellte. Die Bewohner Tokios gehen nur selten bei Rot über die Ampel. Tsuyoshi hatte von einem Bewerbungsgespräch erzählt, bei dem eine Frage lautete: »Gehst du bei Rot über die Kreuzung?« Er hatte wahrheitsgemäß geantwortet: »Ja, manchmal«, und war nicht genommen worden. »Das lag todsicher an dieser Psycho-Frage. Die haben gedacht, wer bei Rot über die Ampel geht, erschlägt auch während der Überstunden den Prokuristen.«
    Der G8-Gipfel der Regierungschefs reicher Länder tagte 2008 in Hokkaido. Ich recherchierte vorher zur japanischen Prostestbewegung - und fand keine.
    Als Journalist hatte ich auf Krawalle wie zuvor in Genua oder Rostock gehofft und wurde enttäuscht. Eine Demo, die ich mir vor dem Gipfel in Sapporo ansah, wirkte eher skurril und liebenswürdig denn gefährlich. Da marschierten einige Leute von der Gewerkschaft mit, zwei Vertreter
der Ureinwohner, ein Kommunist, drei betrunkene Punks und ein junger Mann vom schwul-lesbischen Studentenclub, der sich während der Demo immer ein DIN-A4-Blatt mit seinen Forderungen vors Gesicht hielt, um nicht erkannt zu werden.
    Mit einem aus der Gruppe anarchistischer Punks war ich vor der Demo ein wenig ins Gespräch gekommen. Yoh, 31 Jahre alt, Haare in alle Richtungen gesprayt, Patronengürtel, war mir wegen des deutschsprachigen Aufnähers auf der Lederjacke aufgefallen: »Gegen Nazis«. Yoh war der gleichberechtigte Anführer von vier Anarchisten, die hier die »globale Auflösung aller Staatsordnung« forderten.
    »Gegen G8! Gegen Armut! Gegen Ausbeutung!« Bei der Demo liefen nur 15 Leute mit, sie war jedoch von 40 Polizisten in dunkelblauen Uniformen bewacht. Die Beamten kamen aus dem 1300 Kilometer entfernten Hiroshima. Sie wirkten nicht ganz glücklich damit, in der Juni-Hitze in einer fremden Stadt um die Störer herumlaufen und den Verkehr regeln zu müssen. Auch die Passanten konnten dem Protest wenig abgewinnen, zumal Yoh nach einigen Bier seine Sprüche ziemlich laut brüllte: »Gegen alles! Verdammte Scheiße, alles.«
    »Ich weiß nicht, ob dieser G8-Gipfel was bringt, aber diese Demonstranten stören nur die Anwohner und blockieren den Verkehr«, diktierte mir am Wegesrand ein junger Angestellter in den Block. »Können die nicht friedlicher demonstrieren?« Generell sind jungen Japanern die Globalisierungsgegner suspekt. »Ich würde nie im Leben Attac oder so beitreten, auch nicht aus Spaß, das wäre bloß ein Riesenminus in der Firma«, sagte Kenji.

    So denken viele. Denn aufmüpfig zu sein macht sich in Japan nicht bezahlt.
    In den Sechzigerjahren lieferten sich die Studenten in der Tokioter Innenstadt noch Straßenschlachten mit der Polizei. Heute wäre das undenkbar, die junge Generation interessiert sich praktisch nur noch für Mode und Essen. Brennende Autos wie am ersten Mai in Berlin? In Japan undenkbar. Die Gesellschaft erlaubt nur wenig Abweichung vom normalen Lebenslauf, eine aufmüpfige Phase gesteht die Gesellschaft den jungen Leuten nicht zu. Die Staatsmacht greift sofort durch, wo sich Protest regt. Ein entfernter Bekannter von mir, der 30-jährige Terumasa Uchida von der »Kommunistischen Allianz für die Revolution«, saß sieben Monate in einer Siebenerzelle mit echten Kriminellen - er hatte demonstriert, wo demonstrieren verboten war. »Vorher haben die Polizisten mich 23 Tage lang von morgens bis abends verhört«, erzählt er. »Sie haben versucht, Druck auf mich auzuüben. Sie haben gesagt, meine Eltern machten sich Sorgen, weil sie aus der Haft nichts von mir zu hören bekommen.« Er habe sich jedoch auch von den Psycho-Drohungen

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