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Tokio Vice

Titel: Tokio Vice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jake Adelstein
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dem Mord abgesperrt hat, besaß also wahrscheinlich einen Schlüssel.«
    Yokozawa nickte mir zu und ging zurück ins Haus, nicht ohne noch zu erwähnen, dass die Polizei den Fall ziemlich schnell aufklären werde.
    Ich blieb noch eine weitere Stunde vor Ort, aber meine einzige Ausbeute war das unscharfe Foto eines Polizisten mit einem Plastikbeutel, in dem anscheinend ein blutiges Sweatshirt lag. Sonst sah ich nichts Interessantes.
    Im Büro tauschten wir unsere Erkenntnisse aus. Yamamoto berichtete, dass die Polizei davon ausgehe, dass der Freund der Tochter die Imbissbuden-Mama ermordet habe. Unklar sei aber noch, ob die Tochter ihn dazu angestiftet habe. Die Tochter stehe derzeit unter Schock, ihre Vernehmung sei daher schwierig, und der iranische Freund sei unauffindbar.
    Ende der Achtzigerjahre, als die japanische Wirtschaft boomte und überall gebaut wurde, schlossen Japan und der Iran eine Vereinbarung, die es Iranern ermöglichte, ohne Visum in Japan zu arbeiten. Das war Teil einer inoffiziellen Politik der Regierung, um das Land mit dringend benötigten Arbeitskräften zu versorgen. Viele Iraner kamen und blieben.
    Als die Wirtschaftsentwicklung im Jahr 1993 wieder zurückging, wurde die Vereinbarung zwar aufgehoben, aber in Chichibu gab es immer noch so viel Schwerindustrie und Fabriken, dass die Iraner Arbeit fanden.
    Jetzt, nach diesem Mord, schnappte sich die Polizei von Saitama jeden Iraner, der in Chichibu arbeitete und den sie finden konnte.
Das kostete natürlich Zeit.
    Ich verbrachte die zugestandenen drei Tage in Chichibu, verfolgte Spuren, sprach mit Iranern und Fabrikarbeitern, nutzte das Yomiuri -Spesenkonto für Getränke mit Chappy in schäbigen Hostessenclubs und ging zu Pressekonferenzen, in denen immer weniger Informationen gegeben wurden. Und ich musste über die Beerdigung berichten.
    Artikel über Beerdigungen folgen mit geringen Abweichungen immer dem gleichen Muster: Die Beerdigungen sind »still und traurig« und man hört immer »unterdrücktes Schluchzen« in der Menge. Selbst wenn die Verwandten des Verstorbenen sich am Abend zuvor noch gut amüsiert haben, wenn sie gelacht, Erinnerungen an schöne Erlebnisse mit dem Verstorbenen ausgetauscht und sich betrunken haben, steht das nie in der Zeitung.
    Mir war ziemlich mulmig bei dem Gedanken an das Begräbnis, und das aus gutem Grund. Inzwischen wusste die ganze Stadt, dass der Hauptverdächtige der iranische Freund der Tochter war. Da ich Jude mit typisch jüdischen Gesichtszügen bin, dunkles Haar, olivenfarbene Haut, große Nase, konnte ich durchaus als Iraner durchgehen. In meiner Vorstellung wurde ich mit dem Verdächtigen verwechselt und von der wütenden Menge zu Tode getrampelt.
    Ich protestierte bei Yamamoto, aber vergeblich.
    Der Trauerzug war groß. Die Tochter des Opfers war da – wir hatten den Auftrag, ein Foto von ihr zu schießen, da sie immer noch als verdächtig galt –, außerdem Verwandte und Kunden. Alles in allem
90 Leute, und alle ausnahmslos in korrektem Trauerschwarz.
    Nach dem Gottesdienst, als alle Weihrauch auf die Kohlenpfanne gestellt und sich vor dem Foto des Opfers verbeugt hatten, hielt der jüngere Bruder des Opfers eine Rede. »Sie war eine wundervolle Schwester. Sie kümmerte sich immer voller Hingabe um andere Menschen. Wenn ich daran denke, was ihr passiert ist, werde ich einfach wütend. Aber wie soll ich mit dieser Wut umgehen? An wem kann ich sie auslassen?«
    Er machte eine Pause, und ich hatte das bedrohliche Gefühl, dass er mich anstarrte. Alle 90 Trauernden schienen mich anzustarren. Nervös streifte ich mein Yomiuri -Armband über und hoffte, dass es den Zorn von mir ablenken würde. Plötzlich durchbrach die Stimme eines kleinen Jungen die Stille: »Ich muss aufs Klo! Ich kann nicht mehr warten, sonst pinkle ich hier auf den Boden.« Nervöses Gekicher erfüllte den Raum, und alle Augen wandten sich langsam
von mir ab.
    Hinterher wäre ich gerne nach Hause gefahren, um zu schlafen, aber drei Tage Sportberichte, Veranstaltungshinweise und Geburtsanzeigen wollten geschrieben werden. Also blieb ich bis ein Uhr nachts im Büro und prüfte, ob wir alle Daten richtig eingegeben hatten. Zwei Stunden lang las ich das Gekritzel der Mütter, die Bilder ihrer Kleinen geschickt hatten, um sie drucken zu lassen. Chappy und ich erfanden aus Spaß immer irgendwelche Bildlegenden wie »Ich sabbere nicht, weil ich ein Baby bin, sondern weil Mama große Titten hat!« oder »Wenn ihr findet, dass ich ein

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