Tokio Vice
Rücken? In welche Richtung zeigte ihr Kopf? Die letzte Frage ist tatsächlich sinnvoll, denn Japaner lagern Tote meist so, dass der Kopf nach Norden zeigt. Wenn das auf die Tote zutraf, war der Mörder womöglich ein Japaner, der Reue empfand.
Saeki forderte uns nun auf, ruhig zu sein und zuzuhören.
Die Leiche war an der Nordseite des Sommerpavillons im Gebüsch entdeckt worden. Der Kopf zeigte zum Pavillon, der Körper lag parallel zum Buschwerk. Die Frau lag auf dem Rücken und hatte die Arme ausgebreitet. Sie trug einen dunkelblauen Overall, eine gestreifte Bluse, Schuhe und Socken. Ein interessantes Detail, denn fehlende Schuhe und Socken hätten auf einen Doppelselbstmordversuch schließen lassen, bei dem der Partner in letzter Minute gekniffen hatte. Die meisten Japaner ziehen nämlich ihre Schuhe und Socken aus, bevor sie sich umbringen. Es ist nicht nur ein schlimmer Fehler, ein japanisches Haus mit Schuhen zu betreten, sondern es gilt auch als ungehobelt, mit Schuhen ins Jenseits zu gehen.
Ihre Bluse war ein wenig hochgerutscht, sodass die Unterwäsche zu sehen war. Sie hatte die Kleidung an, die sie auch am Tag zuvor getragen hatte.
Und man hatte sie mit einem rosa Schal erdrosselt.
In ihren Taschen befanden sich ein Autoschlüssel und ein Taschentuch. Das Auto stand in der Nähe. Unter dem Fahrersitz fand sich ein Beutel mit 6 000 Yen (etwa 60 Dollar) – was gegen Raubmord sprach – und der Ausweis des Opfers. Ihr Familienname lautete Nakagawa.
Das war alles.
Danach schickte Yamamoto mich zurück in den Park, um wie die Polizei weiter nach Augenzeugen zu suchen. Andere Reporter fuhren zum Haus der Ermordeten.
Nach ein paar Stunden trafen wir uns und verglichen unsere Notizen. Die Polizei von Saitama hatte das Adressbuch des Opfers gefunden, und unter den 40 dort verzeichneten Namen waren die mehrerer Ausländer. Polizisten vernahmen jeden Einzelnen von ihnen. Der rosa Schal, mit dem der Mord vermutlich begangen worden war, gehörte wohl nicht der Toten, denn ihre Familie hatte ihn noch nie gesehen. Aber das entscheidende Indiz war wieder, dass das Opfer einen ausländischen Freund gehabt hatte. Am Tag ihres Todes war sie zu ihm gefahren. Er hieß Abdul, wurde aber Andy genannt. Offenbar handelte es sich um einen Iraner, der vorgab, Franzose zu sein. Eine Freundin des Opfers berichtete, dass die beiden sich in einem Fitnesscenter in Ageo kennengelernt hatten.
Als sie das hörten, fuhren Nakajima und Takahashi nach Ageo, wo sie etwas zu erfahren hofften. Doch sie wurden von Mitarbeitern des Fitnessstudios sofort vor die Tür gesetzt, denn die Polizei hatte sie angewiesen, nicht mit Journalisten zu sprechen.
Doch da hatte der gaijin eine gute Idee: Ich wollte mein Glück im Fitnessstudio versuchen, indem ich mich als Kumpel des Iraners ausgab. Wie erwartet hielt Yamamoto das für eine raffinierte Idee, während Nakajima die Nase verzog. Aber schließlich stimmten alle zu, denn schließlich konnte es ja nicht schaden. Also zog ich Jeans und ein Polohemd an. Da ich mich an diesem Morgen nicht rasiert hatte, wuchsen mir hübsche Stoppeln. Ich war überzeugt davon, dass sie mir glauben würden.
Am Empfang gab ich in einem Japanisch mit pseudoiranischem Akzent an, dass Andy mein Freund und Landsmann sei. Dann fragte ich, was eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio kosten würde. Das Personal war anfangs zurückhaltend, taute aber mit der Zeit immer mehr auf. Sie sagten, dass Andy und Nakagawa ein nettes Paar gewesen seien. Beiläufig ließ ich in das Gespräch einfließen, dass ich mir von Andy erst etwas Geld borgen müsse, um die Mitgliedschaft bezahlen zu können. Ob sie mir wohl sagen könnten, wo er wohne, da ich nur seine Arbeitsadresse hätte?
Sie waren sehr entgegenkommend. Mit der Anschrift in der Hand verließ ich später das Fitnessstudio und fühlte mich wie Jim Phelps in Mission Impossible .
Jumbo und ich fuhren sofort zu Andys Adresse. Dabei handelte es sich um ein heruntergekommenes zweistöckiges Holzhaus mit einer Waschmaschine im Flur, die alle benutzten. Der Hauswirt erzählte uns, dass die Polizei das Haus ein paar Stunden nach dem Auffinden der Leiche durchsucht und etwa ein Dutzend Ausländer mitgenommen habe, deren Visa abgelaufen waren. Unser Gespräch wurde dann leider abrupt von zwei Polizeibeamten unterbrochen, die zufällig zurückgekommen waren und uns hinauswarfen.
Im Polizeirevier herrschte mittlerweile das reinste Chaos, denn das Personal des Fitnessstudios hatte,
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