Tokio Vice
nicht gestohlen. Diese Post gehört nämlich niemandem. Tote lesen ihre Post nicht, und das Postamt schickt ihnen das Zeug nicht in die Hölle nach. Also, nehmen Sie es schon mit, vielleicht finden Sie ja etwas.« Damit legte er mir die Briefe in die Hände.
»Na gut«, seufzte ich und stopfte die Post in meinen Rucksack, »aber ich muss jetzt los. Danke für alles.«
Der Alte blieb mitten auf der Straße stehen und zündete sich eine neue Zigarette an. Bevor ich in ein wartendes Taxi einstieg, fragte ich ihn: »Kennen Sie jemanden, der noch etwas über Endo oder den Zeitpunkt seines Verschwindens wissen könnte?«
»Fragen Sie doch seine Freundin. Sie heißt Yumi-chan.«
»Yumi-chan?«
»Ja, sie ist echt heiß.«
»Müssen Sie heute auch ins Krankenhaus?«
»Ja.«
»Steigen Sie ein.« Als Dankeschön für seine Informationen nahm ich ihn im Taxi mit.
Die Mordkommission bewegte sich langsam wie ein Gletscher, die Abteilung für Wirtschaftskriminalität ärgerte sich, dass sie Sekine nicht wegen Betruges festnehmen konnte, und ich hatte erst Ende Mai wieder mit dem Fall zu tun.
Als ich einen Kontaktmann, der im Dezernat für das organisierte Verbrechen arbeitete, besuchte, schimpfte er: »Diese Blödmänner haben den besten Mann, den wir in der Abteilung haben, auf diesen Hundezüchterfall angesetzt. Und glauben Sie, irgendjemand hätte mich gefragt? Natürlich nicht. Obwohl wir den Mann dringend hier brauchen.«
Ich war sofort neugierig: »Wer ist denn der Mann? Ein Leutnant oder so was?«
»Nein, er ist eigentlich kein richtiger Kripobeamter. Ein echter Außenseiter, mag keine Prüfungen. Aber niemand überführt Verdächtige so schnell wie er. Vielleicht deshalb, weil er selbst wie ein Yakuza aussieht – aber nicht wie so ein Schlägertyp, sondern wie ein Boss. Er wohnt in Konan. Vielleicht ist er ja sogar mit Takada zur Schule gegangen!«
»Den würde ich gerne mal kennenlernen.«
»Dann besuchen Sie ihn doch. Er beißt nicht. Aber seien Sie höflich. Und sagen Sie ihm bloß nicht, dass ich Sie geschickt habe.«
»Was soll ich ihm denn dann sagen?«
»Am besten, dass jemand im Morddezernat Ihrem Chef seinen Namen verraten hat. Er mag die Leute dort ohnehin nicht. Und Sie müssen dann keinen Namen nennen, weil Sie Ihren Chef natürlich nicht verpetzen dürfen.«
»Wie heißt er denn?«
»Sekiguchi.«
Yamamoto war sehr erfreut darüber, dass ich eine neue Quelle aufgetan hatte. Da wir bei der Polizei immer noch in Ungnade standen, war jede andere Möglichkeit gut.
»Gut gemacht, Adelstein. Aber wenn du diesen Burschen zum
Reden bringen willst, brauchst du einen Plan. Hat er Kinder?«
»Keine Ahnung. Ich denke schon. Irgendjemand hat etwas von Töchtern erwähnt.«
»Gut. Dann nimm Eis mit.«
»Warum Eis? Nur weil Kinder angeblich immer Eis mögen?«
»Nein, das ist deine Eintrittskarte, Adelstein. So kommst du durch die Tür. Wenn der Mann nicht zu Hause ist, kannst du zu seiner Frau sagen, dass du Eis mitgebracht hast, und sie bitten, es in den Kühlschrank zu legen, damit es nicht schmilzt. Wenn er zu Hause ist, nimmt er das Eis vielleicht an und lässt dich rein. Wenn seine Kinder das Eis sehen, wollen sie sicher etwas davon haben. Und vielleicht finden sie dich nett. Wenn ja, hast du seine Frau auf deiner Seite.«
»Ich soll mich bei seiner Frau einschleimen?«
»Ja, stell dich gut mit ihr. Arbeite an deinem Japanisch, Jake. Vertrau mir. Wenn du etwas mitbringst, dann Eiscreme. Und denk daran, du willst ja Eindruck schinden. Denn kein Polizist ist verpflichtet, mit uns zu reden. Also glaub mir: Kein guter Polizeireporter taucht mit leeren Händen auf – niemals.«
»Äh, kann ich das als Spesen abrechnen?«
»Vergiss es, das zahlst du aus eigener Tasche. Jeder bezahlt für seine Quellen selbst.«
Das war der Nachteil an meinem Job. Man bekommt zwar vielleicht eine Gehaltserhöhung von der Yomiuri , aber sie ist der Arbeitszeit nie angemessen. Und außerdem hat man ein sehr kleines Spesenkonto, aber je besser man wird, desto mehr Geld braucht man, um Polizisten zu bewirten und zu beschenken. Sogar die Eintrittskarten für die Yomiuri Giants, von denen oft angenommen wurde, dass wir sie umsonst bekämen, mussten wir aus eigener Tasche bezahlen. Aber je mehr Informanten wir hatten, desto höher waren die Ausgaben.
Trotzdem befolgte ich Yamamotos Rat und kaufte in einem Supermarkt den größten Becher Schokoladeneis, den es gab. Dann fuhr ich um sieben Uhr abends zum Haus des
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