Tokio Vice
Wo ist mein Schreibtisch?«
Harry Potter grinste. »Tut mir leid, Jake, aber es gibt keinen Schreibtisch für dich. Aber du kriegst die untere Koje.« Damit deutete er auf das Bett an der Wand.
»Die Tokioter Polizei wurde umstrukturiert und hat ein Dezernat für das organisierte Verbrechen geschaffen. Darum brauchen wir unbedingt einen zusätzlichen Reporter. Aber einen zusätzlichen Arbeitsplatz haben wir leider nicht. Ich hoffe, das passt für dich.« Als pflichtbewusster japanischer Angestellter hatte ich natürlich keine andere Wahl.
Ich war froh, dass ich mit Chuckles Masami – mit richtigem Namen Murai – zusammenarbeiten konnte.
Sie war eine resolute Reporterin und hatte viel Sinn für Humor, beides gute Eigenschaften. Ihre Stimme klang rau, und sie lispelte ein wenig. Wenn sie lachte, hörte man es bis auf die andere Seite eines Sportplatzes. Diese Frau hatte nichts Kleinlautes an sich.
Wir waren schon vor zwei Jahren zusammengetroffen, als ich in der Präfektur Ishikawa einen Artikel über die Reisernte auf den winzigen Feldern am Fuße eines Berges schreiben sollte. Chuckles war in der Lokalredaktion, und als ich sie aufforderte, mich zu begleiten und mit mir Reis zu schneiden, kam sie tatsächlich mit. Sie war viel geschickter als ich und übertraf mich auch als Reporter.
Sie begrüßte mich freundlich, aber auch etwas zurückhaltend. Wie jeder Japanologe weiß, ist Japan eine vertikal strukturierte Gesellschaft. Und in der Firmenhierarchie war ich formell ihr Vorgesetzter, weil ich länger dabei war als sie. Aber in der kleinen Welt des Presseclubs war sie der Platzhirsch. Diese Unterschiede waren zwar fein, aber wichtig, und bekamen noch mehr Gewicht durch die Tatsache, dass sie die einzige Polizeireporterin war.
In unserem Gespräch nannte sie mich zunächst »Jake-san«, ein Zeichen für Respekt, bald wechselte sie aber zu »Jake-kun«, was ein Indiz für Gleichheit, Vertrautheit oder auch Geringschätzung ist. Sie schien sich nicht entscheiden zu können, welchen Status ich im Vergleich zu ihr hatte. Ich nannte sie nur »Chuckles-chan«. Das war eine Höflichkeitsform, die Zuneigung ausdrückte und die andere vielleicht etwas dreist gefunden hätten. Schließlich sagte ich: »Sag einfach Jake zu mir. Das tun alle.«
»Aber das wäre respektlos.«
»Nicht für mich.«
»Okay, Jake-san.«
»Gut. Zeigst du mir jetzt alles?«
Zwei Tage später hielt die Tokioter Polizei eine Pressekonferenz ab, in der die Ausstellung eines Haftbefehls gegen den Anführer einer Bande von Kreditwucherern bekannt gegeben wurde. Die Organisation hatte sich über das ganze Land ausgebreitet.
Nun, das war die Art von Verbrechen, die ich kannte und die mir Spaß machte. Es war Chuckles’ Geschichte, sie beschäftigte sich seit Monaten damit. Als sie das Büro verlassen hatte, versuchte ich, an ihrer Stelle so viele Informationen wie möglich zu beschaffen. Zwei Dinge fielen mir zuerst auf: erstens, dass dieser Kredithai, ein großes Tier in der Yamaguchi-gumi, auf der Fahndungsliste stand, weil man ihn verdächtigte, gegen das Gesetz über Geldanlagen, Anzahlungen und Zinssätze verstoßen zu haben, und zweitens, dass das Dezernat für Wirtschaftskriminalität den Fall bearbeitete, nicht das Dezernat für das organisierte Verbrechen.
Wie ich bereits erwähnt habe, ist die Yamaguchi-gumi die größte der drei wichtigsten Yakuza-Gruppen in Japan und zugleich die gewalttätigste und die aktivste im Bereich der Börse und der Hochfinanz. Sie forderte unbedingte Loyalität, und jeder, der seinen Chef verriet, ging zumindest eines Körperteils verlustig oder wurde ermordet. Die Gruppe hat ihre eigene Finanzabteilung und unterhält enge Beziehungen zu Politikern, darunter auch ehemalige Premierminister.
Susumu Kajiyama war der Kaiser der Kredithaie, ein raffinierter Verbrecher. Als Blutsbruder der Goryo-kai, einer Unterabteilung der Yamaguchi-gumi, hatte Kajiyama seit 2000 ein ganzes Netz aufgebaut, das aus fast 1000 Kreditwucherbüros im ganzen Land bestand.
Er hatte Datenbanken mit stark verschuldeten Leuten gekauft, deren Kreditwürdigkeit so miserabel war, dass sie keine normalen Konsumentenkredite mehr bekamen. Und er hatte eine mittlerweile sehr beliebte Strategie entwickelt, nämlich Kunden durch Telefonanrufe und E-Mails anzuwerben. Außerdem hatte er Tarnfirmen gegründet, um persönlichen Kundenverkehr zu ermöglichen und das eingenommene Geld zu »waschen«. Wenn man eines dieser Büros betrat, bemerkte
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