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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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wiederholte ich, und mein Herz hämmerte wie wild, »ist nicht das Gleiche wie Wahnsinn. Es ist nicht das Gleiche wie Perversion oder Verderbtheit oder irgendeins der anderen Dinge, die du mir vorwerfen könntest. Manche Menschen sind verrückt, andere sind krank, und wiederum andere sind schlecht oder abgedreht oder
    wie immer du es nennen willst. Aber das hier ist sehr wichtig.« Ich holte tief Luft. »Sie sind nicht das Gleiche wie jene, die unwissend sind.«
    »Schon kapiert«, knurrte er. Sein Gesicht war rot angelaufen, und ich erhaschte einen Blick auf einen viel älteren, massigeren Jason, übergewichtig und schlaff. Er lehnte sich etwas zurück, dann beugte er sich wieder vor, versuchte, die Stelle an meinem Hals, wo mein Puls schlug, zu fixieren.
    »Schon kapiert. Du lässt jetzt plötzlich, aus heiterem Himmel, die Zicke raushängen.« Er stellte seinen Fuß in die Tür und kam mit seinem Gesicht ganz nah an meins. »Ich bin wirklich verdammt geduldig mit dir gewesen. Oder etwa nicht?
    Obgleich ein Teil von mir ständig gesagt hat: >Jason, du beschissenes Arschloch, warum vergeudest du deine Zeit mit dieser kleinen Irren?< Aber ich bin geduldig geblieben. Und was ist mein Lohn? Du. Und deine total spackigen Launen.«
    »Nun«, sagte ich kalt, »das muss wohl ein direktes Ergebnis davon sein ... dass ich ... ein Spacko bin.«
    Er öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder. »Was soll das sein? Willst du hier Witze reißen?«
    »Nein. Kein Witz.« Ich streckte die Hand aus, um die Tür zuzuschieben. »Gute Nacht.«
    »Du Miststück«, stieß er gepresst hervor. »Du beschissene kleine ...«
    Ich zog die Tür ein Stück auf und schob sie dann mit Schwung zu, so dass er erschrocken zurücksprang.
    »Scheiße!«, schrie er. Ich schloss die Tür und verriegelte sie.
    »Das wird dir noch Leid tun, du Dreckstück.« Er trat gegen die Tür. »Dir haben sie wohl dein beschissenes Hirn amputiert.«
    Ich erwartete, dass er die Tür eintreten oder sie mit seinen Fäusten einschlagen würde, zündete mir eine Zigarette an und setzte mich in den Kreis meiner Bücher, den Kopf mit den Händen umklammernd.
    Nach einer Weile gab er auf, trat noch ein letztes Mal gegen die Tür und sagte bissig: »Du hast gerade einen großen Fehler begangen, du blöde Kuh. Den größten Fehler deines Lebens. Das wirst du bis ans Ende deines Lebens bereuen.«
    Dann hörte ich ihn in sein Zimmer torkeln, während er vor sich hin wütete und mit der Faust gegen die Fensterläden im Flur schlug.
    Als wieder Ruhe im Haus eingekehrt war, verharrte ich lange reglos. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen, sog den Rauch tief in meine Lunge, rang nach Fassung. Nachdem fast eine halbe Stunde vergangen war und ich mich wieder beruhigt hatte, stand ich auf.
    Ich strich ein Blatt Papier auf dem Boden glatt, holte meine Pinsel und versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, einen anderen Menschen zu essen. An der Universität hatte ich viel lesen müssen, so viele unwichtige Dinge. Der Müll von Jahren hatte sich in meinem Kopf angesammelt. Ich musste mich konzentrieren, um mich an die Dinge zu erinnern, die ich jetzt brauchte.
    Nach einer Weile mischte ich gelben Ocker, rosa Krapplack und Zinkweiß. Ich arbeitete schnell, ließ die Farbe nach Belieben verlaufen und Ränder bilden. Es gab einen Grund, weshalb man möglicherweise einen anderen Menschen essen
    würde, dachte ich, einen guten Grund. Ein Gesicht floss aus der Spitze meines Pinsels, eingefallene Wangen, Hals wie ein dürrer Stängel; darunter vorstehende Rippen, eine knochige Hand, die sich auf gefrorenen Boden stützt. Ein verhungernder Mann.
    Hunger konnte ich begreifen. Er ist einer jener Erscheinungen, die in Folge von Kriegen auftreten. Es hatte zwei schwere Hungersnöte während Stalins Herrschaft gegeben. Hunderte von Russen überlebten nur, weil sie Menschenfleisch aßen. An der Universität hatte ich mir den Antrittsvortrag eines Professors angehört, der Zugang zu den Stadtarchiven von St. Petersburg erhalten und dort Beweise gefunden hatte, dass die Leningrader während der Belagerung im Zweiten Weltkrieg ihre Toten verzehrten. Ich tröpfeite einen langen Schienbeinknochen auf das Papier, an dem der Fuß wie eine verkümmerte Frucht hing. Wie hungrig, wie verzweifelt musste man sein, um einen anderen Menschen zu essen? Andere Namen fielen mir ein: der Don-ner-Pass, die John-FranklinExpedition, die Nottingham Galley, die Medusa, das OldChristians-Rugbyteam in den Anden. Und

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