Tokio
der Bäume aß und das Wasser der Bäche trank. Doch daheim im Palast wurde ihr Vater krank und konnte das Bett nicht mehr verlassen. Miaoshan erfuhr von seiner Krankheit, und da sie, wie jede chinesische Tochter, ihrem Vater Achtung erwies, zögerte sie nicht, ihre Augen und Hände für ihn zu opfern. Diese wurden zum Palast gebracht, wo man aus ihnen ein Heilmittel zubereitete, das dem Vater verabreicht wurde, welcher, der Legende zufolge, alsbald genas.
Miao-shan war eines der vollkommensten Glieder in der Kette, die ich schon bald auflösen würde.
Die Russinnen dachten, ich wäre betrunken oder krank. In dem Durcheinander waren wir drei in dem ersten Taxi gelandet, das vor dem Apartmentblock ankam. Ich hatte eilig auf dem Rücksitz Platz genommen und hielt während der ganzen Fahrt den Kopf gesenkt und die Hände auf den Mund gepresst.
»Kotz nicht«, sagte Irina. »Ich hassen, wenn Leute kotzen.«
Im Haus war es bitterkalt. Ich zog meine Schuhe aus und
ging den Korridor entlang in mein Zimmer. Dort kramte ich all meine Aktenmappen hervor und leerte sie in der Mitte des Zimmers aus. Notizen und Skizzen schwebten wie Schnee herab und verteilten sich auf dem Boden. Anschließend nahm ich meine Bücher aus dem Regal, baute damit einen Wall um die Papiere herum, schaltete den elektrischen Heizofen ein und setzte mich mitten hinein, den Mantel fest um mich gezogen. Hier lag eine Skizze vom brennenden Purpurberg, dort eine ausführliche Schilderung der Brücke aus Leichen über den Jiangdongmen-Kanal. Morgen würde ich wieder zu Fuyuki gehen. Man kann spüren, wenn man der Wahrheit nahe ist. Ich hatte mich entschieden. Ich würde vorbereitet sein.
Die Haustür ging auf, und jemand polterte die Treppe herauf. Jason war in dem Apartmentgebäude zurückgeblieben. Ich hatte ihn flüchtig in der Eingangshalle gesehen, wo er mit den anderen Hostessen wartete. Der Portier hatte Mühe, Taxis für alle zu beschaffen, während sich vier Sanitäter in entgegengesetzter Richtung durch die Menge drängten und sich mit ihren Erste-Hilfe-Koffern einen Weg zum Fahrstuhl bahnten. Doch Jason wirkte inmitten all dieser Hektik ausgesprochen ruhig. Sein Gesicht wies eine seltsame gräuliche Färbung auf, und als er den Kopf hob und sich unsere Blick trafen, schien er mich einen Moment lang nicht zu erkennen. Dann machte er Anstalten herüberzukommen. Ich kehrte ihm den Rücken und stieg zu den Russinnen ins Taxi. »He!«, hörte ich ihn rufen, doch bevor er sich durch die Menge gekämpft hatte, war das Taxi schon angefahren.
Jetzt konnte ich ihn mit schweren Schritten den Flur entlangkommen hören. Ich stand auf und ging zur Tür, doch bevor ich sie erreichte, riss er sie auf und stand schwankend vor mir. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, die Schuhe auszuziehen oder seine Umhängetasche an der Garderobe aufzuhängen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und es waren Flecken auf seinem Ärmel.
»Ich bin's.« Er legte eine Hand auf seine Brust. »Ich bin's.«
»Ich weiß.«
Er stieß ein gezwungenes Lachen aus. »Weißt du was? Ich
hatte ja keine Ahnung, wie perfekt du bist! Bis heute Abend. Du bist perfekt!« Er wischte sich das Gesicht ab und leckte sich über die Lippen, während er auf meine Bluse und den engen Samtrock starrte. Ich roch Alkohol und seinen Schweiß und etwas anderes. Etwas wie den Speichel eines Tiers. »Spacko, ich ziehe meinen Hut vor dir. Wir sind einer so verdorben wie der andere. Einer so pervers wie der andere. Puzzleteile - wir sind wie geschaffen füreinander. Und ich«, er hielt seine Hand hoch, »ich werde dir was erzählen, was dir echt gefallen wird.«
Er griff nach dem Saum meiner Bluse. »Zieh dich aus und zeig mir deine ...«
»Lass das.« Ich stieß seine Hand weg. »Fass mich nicht an!«
»Komm schon ...« »Nein!«
Er zögerte und sah mich ungläubig an.
»Hör zu«, sagte ich, und meine Kehle war wie zugeschnürt,
»hör mir jetzt gut zu. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Du irrst dich, wenn du glaubst, wir seien gleich. Das sind wir nicht. Ganz und gar nicht.«
Er fing an zu lachen und schüttelte den Kopf. »Oh, komm
schon.« Er hob tadelnd einen Finger in die Höhe. »Versuch nicht, mir weiszumachen, dass du nicht ein bisschen pervers bist ...«
»Wir sind nicht gleich«, zischte ich, »denn Unwissenheit, Jason, Unwissenheit ist nicht das Gleiche wie Wahnsinn. Und das war es auch nie.«
Er starrte mich wütend an. »Willst du mir jetzt dumm kommen?«
»Unwissenheit«,
Weitere Kostenlose Bücher