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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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was hatten die Chinesen gemeint, wenn sie Yi zi er shi sagten? »Wir waren hungrig genug, gegenseitig unsere Kinder zu essen.« Ich malte das Kanji für Hunger.
    Dann zündete ich mir eine Zigarette an und dachte nach. Man kann sich nicht vorstellen, was man tun würde, wenn man am Verhungern wäre. Aber Menschen wurden auch aus anderen Gründen zu Kannibalen. Ich wechselte zu einem Kalligraphiepinsel, sog damit Tusche auf und malte ganz langsam und sorgfältig ein einzelnes Kanji - ähnlich dem Schriftzeichen für die Zahl Neun, doch mit einem umgekehrten Schwung im letzten Strich.
    Macht .
    Es hatte an der Universität einen Doktoranden
    gegeben, der verrückt nach kriegerischen Sekten
    in Afrika gewesen war. Ich erinnerte mich daran,
    wie er in der Uni Plakate für einen Vortrag über
    die Human Leopard Societies in Sierra Leone und
    die Kindersoldaten des liberianischen Poro-Geheimbunds aushängte. Ich ging nicht zu dem Vortrag, aber ich hörte Leute hinterher darüber reden. »Glaub mir, er hat total abgefahrene
    Sachen gesagt, wie: offenkundig zerstückeln sie
    ihre Feinde und essen sie. Wenn es jemand ist,
    den sie besiegt haben, dann verleiht es ihnen angeblich Stärke.« In einigen der Zeugenaussagen von Nanking wurde von Leichen auf der Straße berichtet, denen Herz und Leber fehlten. Die Gerüchte besagten, dass die japanischen Soldaten sie herausgeschnitten hätten, um unverwundbar im Kampf zu werden.
    Ich betrachtete das Symbol für »Macht«, dann tauchte ich meinen Pinsel von neuem in die Tinte und malte zwei weitere Schriftzeichen: »chinesisch« und »Methode«. Kampo. Chinesische Heilkunde. Heilung.
    Was erinnerte ich noch von dem, was ich gelesen hatte? Ich nahm alle Bücher aus der Kinokuniya-Buchhandlung, legte einige von ihnen aufgeschlagen auf meine Knie, andere auf die Bilder. Ich markierte mit meinem Finger eine Stelle in einem Buch, während ich, den Pinsel zwischen den Zähnen, ein anderes durchblätterte.
    Es war erstaunlich. Es stand alles hier drin. Ich hatte es immer wieder gelesen und dennoch übersehen. Zuerst fand ich die Geschichte von Miao-chuang, der Augen und Hände seiner Tochter aß. Warum? Um sich zu heilen. Dann fand ich, in der Übersetzung eines medizinischen Kompendiums aus dem sechzehnten Jahrhundert, dem Ben Cao Gang Mu, Heilmittel, die aus fünfunddreißig verschiedenen menschlichen Körperteilen hergestellt wurden. In Menschenblut getränktes Brot gegen Lungenentzündung und Impotenz, menschliche Galle in Alkohol als Arznei gegen Rheumatismus. Das Fleisch hingerichteter Verbrecher als Medizin zur Behandlung von Essstörungen. Dann gab es Lu Xuns haarsträubende Geschichten über Menschenfleisch, das im Tagebuch eines Verrückten verzehrt wurde, und seine glaubhafte Schilderung darüber, wie Leber und Herz seines Freundes Xu Xilin von En Mings Leibwächtern gegessen wurden. In einem Buch über die Kulturrevolution stand eine ausführliche Beschreibung der veralteten Tradition des Ko ku: Der größte Beweis kindlicher Ehrerbietung ist das Kochen eines Stücks des eigenen Fleisches in einer Suppe, um ein geliebtes Elternteil von Krankheit zu heilen.
    Ich nahm die drei Blätter mit den Kanji - Hunger, Macht, Heilung -, ging zur Wand, heftete sie an die Tokioter Skyline und betrachtete sie nachdenklich. Japans Geschichte war untrennbar mit der Geschichte Chinas verflochten. So viele Dinge waren übernommen worden, warum dann nicht dies?
    Wenn Menschenfleisch in China ein Heilmittel sein konnte, warum dann nicht auch hier in Japan? Ich kehrte zu meinen Büchern zurück. Da war noch etwas gewesen. Ich erinnerte mich vage an einen Text, den ich für ein Seminar an der Uni gelesen hatte.
    Ich zog eine Studie über das Nachkriegsjapan hervor. Irgendwo darin befanden sich Abschriften der Tokioter Kriegsverbrecherprozesse. Ich zündete mir eilig eine neue Zigarette an, setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und blätterte das Buch durch. Nach knapp zwei Dritteln der Seiten fand ich, wonach ich suchte: die Zeugenaussage einer jungen Japanerin, die während des Krieges für die berüchtigte Einheit 731 gearbeitet hatte. Ich las das Kapitel: »Alliierte Soldaten in Kriegsgefangenschaft, die so genannten >Maruta< (Holzscheite), wurden für Vivisektion und Menschenversuche missbraucht.«
    Da war ein Foto der Frau, die die Zeugenaussage gemacht
    hatte. Sie war jung, hübsch, und ich konnte mir den Abscheu und die absolute Stille in dem großen Saal, in dem das Militärtribunal

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