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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Fläschchen! Ich meine das hier. Das Blut. Wo kommt das her?«
    »Das Blut ... das Blut kommt ... die Jungs auf der Straße sagen, das Blut kommt...«
    »Was?« Liu sah ihn streng an. »Was sagen sie?«
    Er fuhr sich mit der Zunge nervös über die Zähne und wurde kreideweiß. »Nein, sie müssen sich irren.«
    »Was sagen sie?«
    »Sie sind älter als ich«, erwiderte er und senkte den Blick.
    »Die anderen Jungen sind viel älter als ich. Ich glaube, sie haben mir Märchen erzählt ...«
    »Was sagen sie?«
    Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, und als er schließlich sprach, war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Sie sagen, dass die Frauen ...«
    »Ja? Was ist mit den Frauen?«
    »Sie sagen, dass er ...« Seine Stimme war fast nicht mehr zu hören. »Er nimmt sich Schnipsel von ihnen. Schnipsel von ihrer Haut. Er schabt Schnipsel von ihrer Haut ab.«
    Mir wurde übel. Ich kauerte mich nieder und vergrub mein Gesicht in den Händen. Liu holte tief Luft, packte den Jungen am Kragen und zerrte ihn erst aus dem Raum und dann aus
    dem Gebäude.
    Ich holte sie etwa hundert Meter entfernt ein. Liu hatte seinen Sohn in einen Eingang gedrängt und ging hart mit ihm ins Gericht. »Wo hast du das gehört?«
    »Die Jungen auf der Straße reden alle davon.«
    »Wer ist er? Dieser Yanwangye? Wer ist er?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Er ist ein Mensch - natürlich ist er das. Und was für ein Mensch? Ein Japaner?«
    »Ja. Ein Oberleutnant.« Der Junge deutete auf seinen Kragen, da, wo ein Offizier der kaiserlichen japanischen Armee sein Rangabzeichen tragen würde. »Der Yanwangye in Oberleutnantsuniform.« Er sah mich an. »Haben Sie heute
    Morgen das Motorrad gehört?« »Ja.«
    »Das war er. Sie sagen, er wird ewig hungrig sein, weil ihn nichts aufhalten kann. Die anderen Jungen sagen, er ist auf einer Suche, die ewig dauern wird.«
    Ich muss hier innehalten, während ich dies niederschreibe, denn ich erinnere mich an eine Szene, eine Unterhaltung, die ich mit Liu vor der Invasion geführt hatte. Wir saßen in seinem kleinen Salon, auf dem Tisch einige Becher und eine kleine Schüssel mit Nankinger Salzente, und er erzählte mir von den Leichen, die er in Shanghai gesehen hat, Leichen, die von den Japanern geschändet worden waren. Die Szenen, die er mir an jenem Abend beschrieben hat, lassen mich nicht mehr los. In Shanghai war allem Anschein nach alles als Trophäe genommen worden: ein Ohr, ein Skalp, eine Niere, eine Brust. Die Trophäe wurde am Gürtel getragen oder an die Mütze geheftet, Soldaten, die Skalps oder Genitalien präsentieren konnten, besaßen große Macht. Sie posierten mit ihren Errungenschaften, warteten darauf, dass ihre Kameraden Fotos von ihnen machten. Liu hatte Gerüchte über eine Gruppe von Soldaten gehört, die chinesische, zu alten Mandschuzöpfen geschorene Skalps hinten an ihre Mützen genäht hatten, als Erkennungszeichen ihrer Einheit. Unter ihnen befand sich ein Soldat aus einer anderen Einheit, der eine Filmkamera bei sich trug, wahrscheinlich gestohlen von einem Journalisten oder Beute aus einer der geplünderten Villen in der Internationalen Niederlassung. Die Männer protzten auch vor ihm, lachten und schnippten die Zöpfe über ihre Schulter, äfften den Gang der Mädchen in den Kabaretts an der Avenue Edward VII. nach. Sie schämten sich ihres widernatürlichen Verhaltens nicht, sondern waren sogar stolz darauf und stellten sich begeistert zur Schau.
    Wenn ich jetzt im Schreiben innehalte, ist das Einzige, was ich höre, das Pochen meines Herzens. Vor dem Fenster fällt lautlos Schnee. Was bedeutet die Haut? Schnipsel von menschlicher Haut? Was für eine Trophäe nahm der Yanwangye?
    »Das ist eine von ihnen.«
    Das Mädchen war erst drei oder vier Jahre alt. Lius Sohn führte uns zu ihr. Sie lag in einiger Entfernung von uns auf der Straße, die an der Seite der Seidenspinnerei entlangführte, mit dem Gesicht nach unten, ihr Haar um sie ausgebreitet, ihre Hände unter dem Körper.
    Ich sah den Jungen an. »Wann ist das passiert?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Sie lag gestern schon hier.«
    »Sie muss begraben werden.«
    »Ja«, sagte er. »Ja.« Doch er rührte sich nicht.
    Ich ging ein Stück die Straße entlang, um sie anzuschauen. Als ich näher kam, bemerkte ich, dass sich ihre Jacke bewegte.
    »Sie lebt«, sagte ich zu den anderen.
    »Sie lebt?« Liu fixierte seinen Sohn mit einem einschüchternden Blick. »Hast du das gewusst?«
    »Nein«, antwortete er und

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