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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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stattfand, vorstellen, während sie mit klarer Stimme den Tag beschrieb, als sie die Leber eines amerikanischen Soldaten gegessen hatte. »Zum Wohl meiner Gesundheit.«
    Ich saß lange da und starrte auf das Bild dieser schönen Kannibalin. 1944 hatte wenigstens eine Person in Japan geglaubt, dass Kannibalismus gut für die Gesundheit sei. Es war an der Zeit, Fuyuki bedeutend ernster zu nehmen, als ich es bisher getan hatte.
    42
    Es dauerte eine Weile, bis ich einschlafen konnte. Ich träumte, dass alles im Zimmer genauso war wie im wirklichen Leben. Ich lag in meinem Pyjama auf der Seite im Bett, eine Hand unter dem Kissen, eine darauf, die Knie angezogen. Die einzige Abweichung von der Realität war, dass ich meine Augen im Traum geöffnet hatte - ich war hellwach und lauschte. Ein stetes, rhythmisches Geräusch drang gedämpft aus dem Flur zu mir, so als würde sich jemand flüsternd unterhalten. Vom Fenster her kam ein Geräusch, als würde etwas am Fliegengitter nagen.
    Der erste Gedanke meines Traum-Ichs war, dass es eine Katze sein könnte, die da nagte, bis das Gitter plötzlich mit einem Knirschen nachgab und etwas Schweres in mein Zimmer rollte. Als ich hinsah, erkannte ich, dass es ein Baby war. Es lag auf dem Rücken, strampelte mit Ärmchen und Beinchen
    und weinte. Einen wunderbaren, erregenden Moment lang dachte ich, dass es mein kleines Mädchen wäre, das endlich die Reise über die Kontinente geschafft hatte, um mich zu besuchen. Doch gerade, als ich die Hände nach ihm ausstrecken wollte, drehte es sich zur Seite und griff nach mir. Ich fühlte heißen Atem und eine kleine Zunge, die meine Fußsohle leckte. Dann schlug es völlig unerwartet seine kleinen Zähne in meine Zehen.
    Ich fuhr vom Bett hoch, schüttelte es und hieb auf es ein, packte seinen kleinen Kopf und versuchte, seine Kiefer auseinander zu zwingen, doch es klammerte sich knurrend und nach mir schnappend fest. Endlich gelang mir ein fester Tritt, und das Kind knallte kreischend an die Wand und
    löste sich in einen Schatten auf, der auf den Boden rutschte und aus dem Fenster glitt. Während er entschwand, schien Shi Chongmings Stimme aus seinem Mund zu kommen: Wozu ist
    ein Mann bereit, um ewig zu leben? Was würde er nicht essen?
    Ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Die Bettdecke hatte sich verknäuelt, und mein Haar klebte mir im Gesicht. Es war fünf Uhr morgens. Draußen verzog sich gerade ein Gewitter, und einen Moment lang war mir, als hörte ich im Heulen des Windes noch immer das Weinen des Babys. Ich lag ganz still da, die Hände auf der Bettdecke, und lauschte dem Geräusch, das die Heizung machte. Das Zimmer war von einem seltsamen, grauen Licht erfüllt. Und plötzlich war da noch ein anderes Geräusch, ein merkwürdiges Geräusch, das nichts mit meinem Traum oder dem Gewitter zu tun hatte. Es kam von
    der anderen Seite des Hauses.

    44
    Nanking, 20. Dezember 1937
    Alles Wissen hat seinen Preis. Heute haben Liu Runde und ich Dinge erfahren, von denen wir wünschten, dass wir sie wieder vergessen könnten. An einer Wand des kleinen Raums in der Seidenspinnerei stand ein niedriges Feldbett, auf dem achtlos eine blutbefleckte Matratze lag. Eine Kerosinlampe stand darauf, so als hätte sie jemand dazu benutzt, Licht auf die teuflischen Operationen zu werfen, die dort stattgefunden haben mochten - oder was immer es war, wovon dieses viele geronnene Blut stammte. Das Einzige, was nicht von Blut klebte, war ein Haufen von Habseligkeiten, die sich an der Wand türmten, darunter ein Paar Taibi-Galoschen und ein Soldatentornister aus Rindsleder. Auf dem kleinen Schreibtisch neben dem alten Abakus des Spinnereidirektors stand eine Reihe kleiner brauner Arzneimittelfläschchen, die mit Wachspapier versiegelt und mit japanischen Schriftzeichen auf den Etiketten versehen waren; eine Hand voll Phiolen mit verschiedenen grob gemahlenen Pulvern; ein Mörser mit Stößel neben Quadraten aus gefaltetem Apothekenpapier. Dahinter befanden sich drei Armeekochtöpfe und eine Wasserflasche mit der aufgedruckten kaiserlichen Chrysantheme. Liu hielt einen der Töpfe ein wenig schräg, um hineinzuschauen. Es waren Stofflappen darin, die in einer nicht zu beschreibenden Mischung aus Blut und Wasser schwammen.
    »Gütiger Himmel.« Liu stellte den Topf wieder gerade hin.
    »Was, in Gottes Namen, geschieht hier?«
    »Er ist krank«, erklärte der Junge und deutete grimmig auf die Arzneimittelfläschchen. »Ein Fieber.«
    »Ich meine nicht die

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