Tokio
wich zurück. »Ich schwöre -ich schwöre, ich dachte, sie wäre tot.«
Liu spuckte auf den Boden. Er kehrte seinem Sohn den Rücken und kam auf mich zu. Wir starrten auf das Mädchen. Sie trug eine Steppjacke und wog nicht mehr als dreißig Jin, doch niemand hatte sie aufgehoben. Ihre Füße waren mit Fetzen eines olivgrünen Wollstoffs umwickelt - dem Stoff einer japanischen Armeedecke.
Ich beugte mich über sie. »Dreh dich um«, sagte ich. »Dreh dich auf den Rücken.«
Sie bewegte sich nicht. Ich bückte mich, fasste sie am Arm und drehte sie um. Sie war leicht wie Feuerholz, und als sie auf dem Rücken lag, fielen Haare und Arme schlaff in den Schnee und blieben dort ausgebreitet liegen. Ich wich einen Schritt zurück und würgte. Ihre Hose war vorn aufgeschnitten, und ein Loch von der Größe einer Reisschüssel klaffte an ihrer rechten Seite, knapp unter den Rippen, wo die Leber saß. Ich konnte die schwärzliche Verfärbung von Gangrän um die Ränder der Wunde sehen, wo auf sie eingehackt worden war. Der Gestank ließ mich instinktiv mit dem Arm Nase und Mund zuhalten. Es war der Geruch von Wundbrand. Selbst wenn ich sie in ein Krankenhaus schaffen könnte, würde sie nicht überleben.
Ich starrte auf das Loch im Bauch des Mädchens. Es war
nicht zufällig dort, sondern mit einer Zielstrebigkeit aus ihrem Leib geschnitten worden, die mir das Blut in den Adern gerinnen ließ. »Was ist das?«, fragte ich Liu flüsternd. »Ist das eine Trophäe?« Ich konnte mir keinen anderen Grund für eine solche Verstümmelung vorstellen. »Hat er sich eine Trophäe genommen?«
»Shi Chongming, ich weiß es nicht. Ich habe so etwas noch nie gesehen ...«
Genau in jenem Moment schlug das Kind die Augen auf und
sah mich an. Mir blieb keine Zeit, den Arm zu senken, und sie erkannte, dass ich mich vor ihr ekelte. Sie blinzelte einmal, ihre Augen blickten klar und lebendig. Ich nahm den Arm vom Gesicht und versuchte, normal zu atmen, denn ich wollte nicht, dass mein Abscheu der letzte Eindruck war, den sie in dieser Welt von sich selbst mitnahm.
Ich wandte mich verzweifelt zu Liu um. Was soll ich tun?
Was kann ich tun?
Er schüttelte müde den Kopf und entfernte sich. Als ich sah, wohin er seine Schritte lenkte, verstand ich. Er ging zu einer Stelle, wo sich am Fuß eines Gebäudes ein schwerer Pflasterstein gelöst hatte.
Als es getan war, als das Kind tot und der Stein mit ihrem Blut befleckt war, säuberten wir unsere Hände, knöpften unsere Mäntel zu und kehrten zu dem Jungen zurück. Liu nahm seinen Sohn in die Arme und küsste ihn ein ums andere Mal auf die Wangen, bis es dem Jungen peinlich wurde und er sich aus der Umarmung befreite. Es schneite wieder, und wir machten uns schweigend auf den Heimweg.
Ehrwürdiger Himmelsvater, vergib mir. Vergib mir, dass ich nicht die Kraft besitze, sie zu begraben. Sie liegt noch immer im Schnee, und die Wolken und der Himmel spiegeln sich in ihren toten Augen. Es befinden sich Spuren von ihr an meinem Mantel und unter meinen Nägeln. Ich bin sicher, dass auch Spuren an meinem Herzen haften, doch ich kann sie nicht fühlen. Ich fühle überhaupt nichts, denn das hier ist Nanking, und er ist nicht neu, dieser Tod. Ein einzelner Tod ist kaum der Erwähnung wert in dieser Stadt, wo der Teufel durch die Straßen streift.
45
Um mich herum schälte sich das Zimmer langsam aus der
Dunkelheit. Ich kauerte reglos auf dem Futon und wartete darauf, dass die Geräusche von draußen erkennbar wurden. Doch immer, wenn ich dachte, sie wären zum Greifen nah, gingen sie im Krachen des Donners unter. Langsam begann
ich, mir alle möglichen Dinge zusammenzuspinnen. Ich bildete mir ein, das Haus wäre ein kleines Floß in der Dunkelheit, von den Wellen geschaukelt, und die Stadt außerhalb meines Zimmers wäre verschwunden, ausgelöscht von einer Atombombe.
Wieder vernahm ich das Geräusch. Was war es? Konnten es
die Katzen im Garten sein? Ich hatte hin und wieder ihre Jungen beobachtet, wie sie an den Moskitogittern hingen und wie Babys schrien. Oder war es ...
»Jason?«, flüsterte ich und setzte mich auf. Die Haut in meinem Nacken kribbelte. Diesmal war das Geräusch lauter, ein seltsames, klagendes Wispern. Ich kroch auf allen vieren zur Tür, öffnete sie vorsichtig einen Spalt weit und spähte hinaus. Mehrere Fensterläden waren aufgemacht worden, und gegenüber Jasons Zimmer stand ein Fenster offen. Draußen tobte noch immer der Sturm - Äste waren abgebrochen, und nahe
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