Tokio
fallen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie stützte beide Hände auf den Schreibtisch, so als müsse sie erst ihr Gleichgewicht wiederfinden. Dann rieb sie sich müde die Schläfen, schloss eine Schublade auf, öffnete die Wechselgeldkassette und holte ein Bündel Geldscheine heraus, die sie in ihre Tasche stopfte. Ich wollte mich gerade vom Fenster abwenden, als sie eilig auf mich zugestöckelt kam. Ihr weißer Pelzmantel schwang dabei wie eine Glocke um sie.
»Hier entlang.« Ohne auch nur ihre Schritte zu verlangsamen, ergriff sie meinen Arm und zog mich vom Fenster weg, an allen Tischen, all den Gaffern vorbei. »Was hat sie denn getan?«, hörte ich einen Kunden murmeln. Ich wurde durch die Aluminiumtür nach draußen bugsiert, wo das
Garderobenmädchen sich auf Zehenspitzen über den Tresen lehnte, um zu sehen, was im Klub los war. Strawberry zog mich in den Korridor, der zu den Lagerräumen und Toiletten führte. Sie steuerte mich am Herrenklo vorbei, wo jemand versucht hatte, den Geruch von Erbrochenem mit einem Reiniger zu übertünchen, und in den kleinen Umkleideraum, in dem sich die Hostessen schminkten und zurechtmachten. Dann zog sie die Tür hinter uns zu. Sie zitterte und atmete so schwer, dass sich ihre Schultern unter dem Pelzmantel hoben und senkten.
»Hör mir zu, Lady.«
»Was ist?«
»Du musst weg.«
»Was?«
»Verschwinde hier.« Sie packte meinen Arm. »Du und Jason müssen weg aus dem Haus. Weg aus Tokio. Sagt nichts zu
Polizei. Geht nur weg. Strawberry will nicht wissen, wohin.«
»Nein«, sagte ich und schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein. Ich gehe nirgendwohin.«
»Grey-san, das hier sehr wichtig. Etwas Schlimmes passiert in Tokio. Und etwas Schlimmes breitet sich aus - breitet sich aus.« Sie hielt inne und musterte mich neugierig. »Grey-san?
Du weißt, was passiert? Du siehst Nachrichten?«
Ich schaute auf die geschlossene Tür. »Sie meinen Bai-san. Sie meinen, was mit ihm passiert ist.« Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. Ich dachte an das Kanji. Innere Verletzungen. »Das war Ogawa, stimmt's?«
»Ssscht!« Ihre Stimme nahm einen hektischen Ton an. »Hör mir zu. Bai-san hat Besuch bekommen. Sie ihn ins Krankenhaus bringen, aber er hat mit Polizei gesprochen, bevor er gestorben. Vielleicht er war verrückt, dass er hat mit Polizei gesprochen, oder vielleicht weiß er, dass er sowieso stirbt...«
»Ein Besuch von Ogawa?«
Sie nahm ihre Brille ab. »Grey-san, auf Mr. Fuyukis Party gestern Abend war Dieb.« »Ein Dieb?«
»Deshalb Ogawa ganz verrückt. Gestern Abend ein Wurm
sich eingeschlichen in Mr. Fuyukis Haus, und jetzt er nicht froh.«
Ein seltsames Gefühl überkam mich. Ich hatte die unangenehme Empfindung, dass jenseits der Wolkenkratzer irgendeine schreckliche Offenbarung lauerte, wie Godzilla. »Was wurde gestohlen?«
»Was du denkst, Grey?« Sie sah mich mit einem viel sagenden Blick an. »Hmmm? Was du denkst? Du kannst erraten?«
»Oh«, flüsterte ich, und alle Farbe wich aus meinem Gesicht. Sie nickte. »Ja. Jemand stehlen Fuyukis Medizin.«
Ich ließ mich auf den nächstgelegenen Stuhl plumpsen, als hätte mir jemand einen Schlag in den Magen versetzt. »Oh ... nein. Das - das hatte ich nicht vorausgesehen.«
»Und hör zu.« Strawberry neigte sich ganz nah zu mir, so dass ich den Tequila riechen konnte, der sich mit ihrem nach Zitrone riechenden Parfüm vermischte. »Der Dieb jemand auf Party gestern Abend. Die Krankenschwester zu Haus von jedem gegangen. Sie sucht überall, aber Bai-san sagt Polizei, er denkt, sie nicht findet ihr Sagashimono. Das Ding, sie sucht.«
Sie strich sich das Haar zurück und schaute über ihre Schulter, als ob jemand zur Tür hereinkommen könnte. »Du weißt«, fuhr sie sehr leise fort und beugte sich noch näher zu mir, »wenn ich Ogawa, und ich höre, was manchmal aus großen Klappe von
dir kommt...«, irgendwo, fünfzig Stockwerke tiefer, heulte eine Sirene, »... dann ich würde denken, Grey-san, du Dieb ...«
»Niemand weiß, dass ich Fragen gestellt habe«, zischte ich, und sah sie von der Seite an. »Nur Sie.«
Sie richtete sich auf und zog sarkastisch ihre Augenbrauen hoch. »Wirklich? Wirklich, Grey?«
Ich starrte sie an, und plötzlich lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich erinnerte mich, wie abweisend Fuyuki gewesen war, als ich mir sein Apartment ansehen wollte. Ich erinnerte mich, wie die Krankenschwester den Korridor
entlanggekommen war. Sie hatte mich bei dem
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