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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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jeder im Klub hochschreckte. Nur ich nicht. Ich hatte schweigend dagesessen und geistesabwesend den Kurs der Vögel am Himmel verfolgt und mich gefragt, wer in Fuyukis Vergangenheit die verwandelnde Kraft besessen haben könnte, von der Shi Chongming gesprochen hatte.
    Strawberry hatte mir geholfen, meinen Bluterguss mit Makeup zu verbergen, und mich dann zu den Kunden an den Tischen geschickt. Ich saß wie benommen da, hörte nichts, sagte nichts, bewegte mich nur, wenn Essen serviert wurde. Dann aß ich alles, was auf den Tisch kam, artig und konzentriert auf, hielt mir dabei die Serviette vor den Mund, damit niemand bemerkte, wie schnell ich die Bissen hinunterschlang. Es war nur noch wenig Geld übrig, nachdem ich meine Fahrkarte zu Shi Chongming bezahlt hatte, und das Einzige, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden gegessen hatte, waren ein kleiner Bissen Shabu shabu und eine Schüssel billige Nudeln in einem Stehimbiss in Shinjuku gewesen.
    Es herrschte eine angespannte Atmosphäre im Klub. Viele
    der Kunden, selbst die Stammkunden, spürten es und blieben nicht lange. Ich war davon überzeugt, dass es nicht nur daran lag, dass so viele Hostessen nicht zur Arbeit erschienen waren, sondern dass die Geschichten der letzten Nacht die Runde gemacht hatten und alle nervös waren.
    Strawberry hing den Großteil des Abends am Telefon, um
    herauszufinden, was geschehen war. Ich dachte an all die Polizisten, die regelmäßig kurz vor Dienstschluss im Klub vorbeischauten - jedermann wusste, dass Mama-san über gute Verbindungen verfügte. Doch an diesem Abend schien niemand zu plaudern, und wie es der Zufall wollte, war am Ende ich die Erste im Klub, die etwas Neues in Erfahrung brachte.
    Es waren die Kanji, die mir ins Auge fielen, die Kanji, die grell von dem Videobildschirm am gegenüberliegenden Gebäude herüberschienen. Ich erkannte sie auf den ersten Blick. Satsujin-jiken. Eine Mordermittlung. Neben den Schriftzeichen war ein unscharfes Bild eines vertrauten Gesichts eingeblendet: Bison grinste breit in den Nachthimmel. Ich sprang so abrupt auf, dass ich ein Glas umstieß. Mein Kunde wich erschrocken zurück und versuchte, dem Whisky
    auszuweichen, der vom Tisch auf seine Hose rann. Ich nahm mir keine Zeit, ihm eine Serviette zu reichen, sondern lief wie in Trance zum Panoramafenster, wo ein junger Bison, schlanker und mit mehr Haaren, mit ausgebreiteten Armen in die Kamera sang. Unter dem Mitschnitt seines Fernsehauftritts wurden weitere Kanji eingeblendet. Ich brauchte lange, bis ich sie entschlüsselt hatte, doch schließlich gelang es mir: Bai-san war um zwanzig Uhr dreißig gestorben. Vor gerade einmal zwei Stunden. Todesursache? Schwere innere Verletzungen. Ich legte die Hände an die Scheibe. Der Schnee fiel lautlos herab und schillerte in den Farben des Bildschirms, der jetzt zu Archivbildern von Bison wechselte, eins beim Verlassen des Gerichts, ein anderes, das ihn auf dem Gipfel seiner Karriere zeigte, mit schmalem Gesicht, Rüschenhemd und blendend weißen, amerikanischen Zähnen. Dann erschien ein Bild von einem Krankenhaus und einem Arzt, der zu einer Schar Reportern sprach, während sich die Blitzlichter der Fotografen in den Rauchglastüren spiegelten. Ich schaute ungläubig zu, schnappte hier und dort ein Kanji auf. Sänger, Frauenschwarm
    - siebenundvierzig Jahre alt - war mit den Spyders auf Tournee
    - Platz eins in der Oricon-Hitpa-rade - Bob-HopeGolfklubskandal. Ich runzelte die Stirn. Bison, dachte ich, ermordet? Und Fuyukis Männer hatten in der vergangenen Nacht allen Hostessen von der Party einen Besuch abgestattet ...
    Hinter mir klingelte ein Telefon. Ich fuhr zusammen, hatte nicht bemerkt, wie still es im Klub geworden war, doch als ich mich umdrehte, waren alle Augen wie gebannt auf den Videobildschirm gerichtet. Strawberry stand nicht weit von mir entfernt und starrte schweigend aus dem Fenster, während sich die bunten Lichter in ihrem Gesicht spiegelten. Eine Weile hörte sie das Telefon nicht - es klingelte dreimal, bevor sie aus ihrer Erstarrung erwachte und den Hörer abnahm. »Moshi moshi?«
    Alle Blicke hefteten sich auf sie, während sie in den Hörer lauschte. Manchmal kann man die Worte, die eine Person hört, förmlich in ihrer Miene ablesen. Es dauerte lange, bevor Strawberry sprach, und als sie es tat, war ihre Stimme ausdruckslos und monoton. »Sind Sie sicher?«, fragte sie.
    »Sind Sie sicher?«
    Sie lauschte wieder, dann ließ sie den Hörer auf die Gabel

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