Tokio
den er in mir weckte. Unter den Leichen hatten sich Fettlachen gebildet, auf deren erkalteter Oberfläche sich bereits eine weiße Haut bildete, genau wie bei dem Fett, das ich gelegentlich im Wok abkühlen sah, wenn Shujin Fleisch zubereitet hatte. Ich schob das Taschentuch fester in meine Nasenlöcher und wusste von diesem Moment an, dass ich mich in Zukunft ein Leben lang vor einer Sache fürchten würde, nämlich davor, was ich aß. Ich würde von jetzt an immer Schwierigkeiten beim Schlucken haben.
Jetzt, nur eine Stunde später, sitze ich zitternd auf dem Bett und halte in der einen Hand einen Federhalter umklammert und in der anderen das Einzige, was ich von Liu Runde mitzunehmen gewagt habe - eine Strähne seines Haars. Sie war in meiner Hand abgebrochen, als ich seinen verkohlten Körper berührte.
Ich fasse mir mit zitternder Hand an den Kopf, und mein
ganzer Körper bebt. »Was ist?«, flüstert Shujin, doch ich kann nicht antworten, denn ich muss an den Geruch der brennenden Leiber von Liu und seinem Sohn denken. Aus dem Nichts taucht vor meinem geistigen Auge das fettig glänzende Gesicht eines japanischen Offiziers auf, der nachts dumpf grinsend vor dem Feuer am Lagerplatz sitzt. Ich denke an das Stück Fleisch, das aus dem kleinen Mädchen vor der Seidenspinnerei herausgeschnitten worden war. Als Trophäe, hatte ich angenommen, oder gibt es andere Gründe für eine solche Gräueltat? Doch die japanische Armee ist wohlgenährt, sie hat es nicht nötig, sich auf Nahrung zu stürzen wie die Geier der Wüste Gobi auf Aas. Und noch etwas anderes geht mir durch den Sinn - die Arzneimittelfläschchen in der Seidenspinnerei ... Genug! Für den Moment will und kann ich nicht weiter darüber nachdenken. Hier sitze ich, mit dem Tagebuch auf den Knien, während Shujin mich mit einem Blick ansieht, der mir die Schuld an allem gibt. Die Zeit ist gekommen, ihr zu sagen, wie es jetzt weitergehen soll.
»Shujin.« Ich beendete den Eintrag, legte den Federhalter weg, schob den Tuschestein beiseite und kroch über das Bett zu ihr. Der Kerzenschein beleuchtete flackernd ihr weißes, ausdrucksloses Gesicht. Sie hatte mich nicht nach dem alten Liu gefragt, doch ich bin mir sicher, dass sie es wusste - sie hatte es in meiner Miene gelesen und am Geruch meiner Kleider erkannt. Ich kniete mich vor sie hin. »Shujin?« Dann legte ich zaghaft meine Hand auf ihr Haar - es fühlte sich rau und dick wie Borke an.
Sie wich nicht zurück, sondern sah mir fest in die Augen.
»Was möchtest du mir sagen, Chongming?«
Ich möchte dir sagen, dass ich dich liebe, ich möchte mit dir reden, so wie Männer in Europa mit ihren Ehefrauen reden. Ich möchte dir sagen, dass es mir Leid tut. Ich möchte die Zeiger der Uhr zurückdrehen.
»Bitte schau mich nicht so an.« Sie versuchte, meine Hand wegzuschieben. »Was möchtest du mir sagen?«
»Ich ...«
»Ja?«
Ich seufzte, nahm meine Hand weg und senkte den Blick.
»Shujin«, meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern,
»Shujin, du hattest Recht. Wir hätten Nanking schon längst verlassen sollen. Es tut mir Leid.«
»Ich verstehe.«
»Und ...«, ich zögerte, »... und ich denke, dass wir jetzt versuchen sollten zu fliehen.«
Sie starrte mich an, und diesmal konnte ich nichts verbergen. Ich stand entblößt vor ihr, verzweifelt und voller Angst und Reue. Nach einer Weile nahm sie die Kerze und löschte sie.
»Gut«, sagte sie tonlos und legte ihre Hand auf die meine.
»Danke, Chongming, danke.« Sie stand vom Bett auf. »Ich mache jetzt Guoba und Nudeln. Wir werden zuerst etwas essen. Dann packe ich für die Reise.«
Mein Herz ist schwer. Sie hat mir vergeben. Doch ich habe Angst, Todesangst, dass dies der letzte Eintrag in meinem Tagebuch sein wird. Ich habe Angst davor, Shujins Mörder zu werden. Welche Hoffnung bleibt uns? Mögen die Götter uns beschützen. Mögen sie uns beschützen.
53
Draußen war es kalt. Der Schnee fiel jetzt in dicken Flocken
- war fast schon ein Schneesturm - und hatte sich während meines kurzen Aufenthalts im Klub zu einer dicken Schicht auf dem Bürgersteig und den Dächern geparkter Autos aufgetürmt. Ich stand im Windschatten des Gebäudes, presste mich so dicht es ging an die Mauer und blickte die Straße entlang. In den wirbelnden Flocken konnte man keine zwanzig Meter weit sehen, und auf der Straße herrschte ungewöhnliche Stille. Die Bürgersteige lagen verlassen da, und es fuhren keine Autos. Es war so, als ob Mama Strawberry Recht
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