Tokio
Versuch ertappt, mich davonzustehlen, während Fuyuki seinen Erstickungsanfall hatte. Wenn man auf die Dinge zurückblickt, die man getan hat, kann man es manchmal nicht glauben,
dass man je so tollkühn oder dumm gewesen ist. »Ja«, sagte ich mit bebender Stimme. »Ja. Ich meine, ich ...« Ich strich mir geistesabwesend über mein Haar. »Niemand weiß Bescheid. Da bin ich - da bin ich sicher.«
»Grey-san, hör zu, Miss Ogawa ganz verrückt. Sie geht wieder zurück zu jedes Haus, bis sie findet Dieb. In jedes Haus. Und diesmal sie wird nicht so nett sein.«
»Aber ich ...« Ich starrte blind auf den Lippenstiftfleck an Strawberrys Kragen. Er erinnerte mich an Blut, an in der Falle sitzende Tiere, an die Füchse, die in der Jagdsaison panisch an der Hintertür meiner Eltern vorbeirannten. Ich dachte daran, wie lautlos die Krankenschwester in unser Haus geschlichen war. Ich dachte an die Hand mit der Armbanduhr, die aus dem Kofferraum ragte. Ich bekam eine Gänsehaut. »Ich kann Tokio nicht verlassen. Sie verstehen nicht ...«
»Strawberry sagt dir jetzt: Du gehst fort aus Tokio. Du gefeuert. Hörst du? Du gefeuert. Komm nicht wieder.« Sie griff in ihre Tasche, holte das Bündel Geldscheine heraus und hielt es mir unter die Nase. »Das Lebewohl von Strawberry. Du gibst auch Jason was ab.« Ich griff nach dem Geld, doch in dem Moment, als meine Hand es berührte, packte sie es fester.
»Grey-san.« Unsere Blicke trafen sich, und ich sah mein Gesicht in ihren eisblauen Kontaktlinsen gespiegelt. Als sie sprach, war es in Japanisch, einem sehr melodiösen Japanisch, das unter anderen Umständen wunderschön geklungen hätte.
»Du verstehst mich, wenn ich Japanisch spreche?«
»Ja.«
»Gib mir ein Versprechen, ja? Versprich mir, dass ich eines Tages einen Brief von dir bekommen werde. Einen netten Brief, in dem steht, wie glücklich du bist. Geschrieben von dir, sicher und geborgen in einem anderen Land.« Sie hielt inne und wartete auf meine Reaktion. »Versprochen?«
Ich schwieg.
»Ja«, sagte sie und starrte mich dabei noch immer durchdringend an, als würde sie meine Gedanken lesen. »Ich glaube, du versprichst es.« Sie ließ das Geld los und hielt mir die Tür auf. »Und jetzt geh. Verschwinde. Hol deinen Mantel und geh. Und, Grey ...« »Ja?«
»Nimm nicht den Glasaufzug. Es ist besser, wenn du den
Fahrstuhl hinten nimmst.«
52
Nanking, 20 . Dezember 1937
Es dauerte nicht lange, bis die Flammen erloschen und sich der lodernde, drachengleiche Feuerschein am Himmel verlor. Gleichzeitig begann es wieder zu schneien, während ich schmutzig und erschöpft vor der Ruine von Liu Rundes Haus stand, mit einem Taschentuch vor dem Mund und Tränen in
den Augen. Das Feuer hatte alles auf seinem Weg verschlungen und nur glimmenden Schutt und ein grausiges Skelett aus verkohltem Gebälk zurückgelassen.
In der Gasse war es still. Ich war die einzige Menschenseele, die gekommen war, um sich die verbrannten Überreste anzusehen. Vielleicht waren Shujin und ich die letzten beiden Menschen in ganz Nanking.
Der Geruch von Kerosin hing in der Luft; der Yanwangye musste das Haus mit Kerosin Übergossen haben, bevor er es anzündete, doch da war noch ein anderer Geruch - der Geruch, der in unserer Gasse gehangen und mich all diese Tage gequält hatte, der Geruch, den ich jetzt mit wachsender Verzweiflung erkannte. Ich wischte mir die Tränen ab und schlich zur Seite des Hauses. Die Lius mussten noch immer dort sein, ging es mir durch den Sinn. Wenn es ihnen gelungen wäre zu fliehen, wüssten wir es - sie wären geradewegs zu uns gekommen. Sie mussten da drin gefangen gewesen sein - der Yanwangye hatte sicher dafür gesorgt.
Eine Rauchschwade trieb am Haus vorbei und verhüllte einen Moment die Ruine. Als sie sich verzogen hatte, entdeckte ich sie. Zwei Gestalten, wie verkohlte Baumstämme nach einem Waldbrand, ihre menschliche Form aufgelöst. Sie standen aufrecht und dicht beieinander in der kleinen Diele, die zur Hintertür führte, als hätten sie zu fliehen versucht. Eine war groß, eine klein. Ich musste nicht allzu genau hinsehen, um zu wissen, dass es Liu und sein Sohn waren. Ich erkannte die Knöpfe an der verbrannten Zhongshan-Jacke. Lius Frau würde ich hier nicht finden -sie war bestimmt fortgebracht worden, um vom Yanwangye für seine grausamen Zwecke missbraucht zu werden.
Ich stopfte das Taschentuch in meine Nasenlöcher und ging näher heran. Der Geruch wurde stärker, unerträglich ob des Hungers,
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