Tokio
schönen Brücken, die sich über Lotusteiche spannen und deren gelber Stein sich des Abends im stillen Wasser spiegelt. Shujin und ich sind die letzten Glieder der Kette. Wir stehen auf einer Klippe und halten China von dem tiefen Fall ins Nichts ab. Und manchmal fahre ich erschreckt zusammen, als würde ich aus einem Traum erwachen, und denke, dass ich fiele und ganz China - die Steppen, die Berge, die Wüsten, die uralten Gräber, die Pagoden, die weißen Delfine im Jangtse und der Himmelstempel -, dass all das mit mir hinabstürze.
Nur zehn Minuten, nachdem Liu unser Haus verlassen und
noch bevor ich einen Weg gefunden hatte, Shujin mitzuteilen, dass wir fortgehen würden, hörten wir das Knattern von Motorrädern.
Ich ging in die Diele, griff nach der Eisenstange und baute mich hinter der Geisterwand auf, die Stange schlagbereit über meinem Kopf erhoben. Shujin stellte sich neben mich, suchte in meinem Gesicht stumm nach Antworten. Das Geräusch wurde lauter und schließlich so dröhnend, dass es förmlich in unseren Köpfen widerzuhallen schien. Dann, gerade als ich dachte, das Motorrad würde geradewegs durch die Tür ins Haus rasen, ertönte ein stotterndes Rattern, und das Geräusch entfernte sich wieder.
Shujin und ich starrten einander an. Das Geräusch entschwand in Richtung Süden, verlor sich nach und nach in der Ferne, und Stille senkte sich herab.
»Was ...«, hauchte Shujin, »... was war das?«
»Sssch.« Ich gab ihr Zeichen. »Bleib da stehen.«
Ich trat hinter der Geisterwand hervor und presste mein Ohr an die verbarrikadierte Haustür. Das Motorengeräusch war verstummt, aber ich konnte etwas anderes in der Ferne hören - etwas Leises, doch Unverkennbares: das Knistern und Zischen von Feuer. Der Yanwangye tut sein teuflisches Werk, dachte ich. Irgendwo, in einer der Straßen ganz in der Nähe, brannte etwas.
»Warte hier. Geh nicht an die Tür.« Ich stieg ins obere Stockwerk hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend und noch immer die Eisenstange in der Hand. Im Vorderzimmer riss ich ein loses Brett von dem vernagelten Fenster ab und spähte hinaus in die Gasse. Der Himmel über den gegen
überliegenden Häusern leuchtete rot. Flammen züngelten fünf, zehn Meter hoch in die Luft. Kleine schwarze Schuppen rieselten herab wie verkohlte Motten. Der Yanwangye musste unserem Haus sehr nah gewesen sein.
»Was ist?«, fragte Shujin. Sie war die Treppe heraufgekommen und stand nun mit weit aufgerissenen Augen hinter mir. »Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich geistesabwesend, mein Blick auf den fallenden Schnee fixiert. Die Flocken waren mit fettigem Ruß gesprenkelt, und die dunkle Rauchwolke trug von neuem jenen Geruch herüber, den Geruch von bratendem Fleisch. Den Geruch, der mich tagelang verfolgt hatte. Es war noch nicht lange her, dass wir unseren Magen mit Buchweizenklößen gefüllt hatten, doch es gab kein Protein in jener Mahlzeit, kein Cai, um das Fan der Nudeln auszugleichen, und mein Körper verlangte noch immer nach Fleisch. Ich sog den Duft gierig ein, so dass mir das Wasser im Mund zusammenlief. Diesmal erschien mir der Geruch so viel stärker - er drang in alles ein, war so übermächtig, dass er fast den Gestank des Feuers überdeckte.
»Ich verstehe das nicht«, murmelte ich. »Das ist nicht möglich.«
»Was ist nicht möglich?«
»Jemand kocht.« Ich wandte mich zu ihr um. »Wie kann das sein? Es ist in diesem Viertel niemand mehr übrig -selbst die Lius haben kein Fleisch zum Braten.« Die Worte erstarben mir auf den Lippen. Der schwarze Qualm hing direkt über der Gasse, in der Lius Haus stand. Ich starrte wie in Trance auf den Rauch, wagte kaum zu atmen, während sich ein schrecklicher Verdacht in mir regte.
51
Als ich an jenem Abend in den Klub kam, befand sich der Aufzug nicht im Erdgeschoss, sondern in der fünfzigsten Etage. Ich stand eine Weile herum, meine Handtasche fest unter den Arm geklemmt, und starrte nach oben. Es dauerte eine Weile, bis ich ein auf DIN-A4-Papier gedrucktes Schild bemerkte, das an der Wand klebte.
Some Like It Hot ist geöffnet!!!!!!! Wir erwarten Sie!!!!
Bitte rufen Sie diese Nummer an.
Ich ging in die Telefonzelle gegenüber und wählte die Nummer. Während ich darauf wartete, dass jemand abhob, betrachtete ich die Schneeflocken, die auf Marilyns ausgestrecktes Bein rieselten. Sie bildeten einen kleinen Berg, der sich bei etwa jedem zehnten Schwung löste und herabfiel.
»Moshi moshi?«
»Wer spricht
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