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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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hätte - als ob etwas Schlimmes in Tokio passierte.
    Ich holte das Geld aus meiner Tasche und wollte es zählen. Meine Hände zitterten, und ich brauchte zwei Anläufe, bis ich es schaffte. Dann stand ich eine Weile da und starrte auf das, was ich in den Händen hielt. Es war nicht der erwartete Wochenlohn. Strawberry hatte mir dreihunderttausend Yen gegeben, fünfmal so viel, wie sie mir schuldete. Ich blickte durch das Schneegestöber die fünfzig Stockwerke hinauf zum Klub und dachte über Strawberry nach, die ihr Leben in Monroe-Kleidern und inmitten junger Kellner und Gangster zubrachte. Mir wurde klar, dass ich fast nichts über sie wusste. Sie hatte eine tote Mutter und einen toten Ehemann und war ansonsten wohl mutterseelenallein auf der Welt. Ich hatte mich nie um ihre Freundschaft bemüht. Vielleicht ist man sich derer, welche schützend die Hand über einen halten, nie bewusst, bis sie nicht mehr da sind.
    Ein Auto fuhr vorsichtig über die Kreuzung. Ich drückte mich an die Wand, schlug meinen Kragen hoch und zog zitternd meinen dünnen Mantel fester um mich. Was hatte Strawberry damit gemeint, ich solle nicht mit dem Glasaufzug nach unten fahren? Dachte sie wirklich, Fuyukis Kumpane würden dort auf mich warten? Das Auto verschwand hinter den Gebäuden, und die Straße lag wieder verlassen da. Es war wichtig, alles in Ruhe zu überdenken. In einzelnen Schritten zu planen. Mein Pass, Bücher und Notizen befanden sich in der Gasse neben dem Haus. Ich konnte Jason nicht anrufen, die Krankenschwester hatte das Telefon aus der Wand gerissen. Ich musste zurück zum Haus - ein letztes Mal.
    Ich zählte eilig Strawberrys Geld ab, teilte es zwischen den beiden Manteltaschen auf, einhundertfünfzigtausend Yen für jeden, und machte mich auf den Weg. Ich schlich mich durch Seitengassen, wandelte wie durch eine Zauberwelt - der Schnee fiel lautlos auf die Klimaanlagen, türmte sich auf lackierten Bento-Schachteln, die in Stapeln neben Hintertüren darauf warteten, von den Fahrern der Restaurants abgeholt zu werden. Ich war nicht passend für ein solches Wetter angezogen und auch noch nie in hochhackigen Schuhen durch Schnee gegangen.
    Ich bewegte mich so unauffällig wie möglich, überquerte die Kreuzung nahe dem Hanazono-Schrein mit seinen gespenstischen roten Laternen und verschwand dann wieder in den dunklen Seitengassen. Ich kam an beleuchteten Fenstern und dampfenden Heizungsschächten vorüber, doch während des gesamten Fußmarsches begegnete ich nur ein oder zwei anderen Personen. Tokio schien seine Türen fest verschlossen zu haben. Jemand in dieser Stadt, dachte ich, jemand hinter einer dieser Türen besaß die Sache, nach der ich suchte. Etwas, das in einen Glaskasten passte. Fleisch. Aber kein ganzer Körper. Vielleicht ein Teil einer Leiche? Wo würde man so etwas verstecken? Und warum? Warum sollte es jemand stehlen? Ein Satz aus einem vor langer Zeit gelesenen Buch kam mir in den Sinn, von
    Robert Louis Stevenson vielleicht: »Dem Leichendieb vermochte keine angeborene Ehrfurcht Abscheu zu entlocken, vielmehr wurde er angezogen von der Mühelosigkeit und Gefahrlosigkeit des Unterfangens ...«
    Ich machte einen großen Bogen um Takadanobaba und gelangte schließlich über einen schmalen Durchgang zwischen zwei Apartmentgebäuden zur Rückseite des Hauses. Halb verborgen hinter einem Getränkeautomaten, dessen blaues Licht gespenstisch flackerte, blieb ich stehen und streckte vorsichtig den Kopf um die Ecke. Die Gasse lag verlassen da. Zu meiner Linken ragte dunkel das Haus auf und verdeckte den Himmel. Ich hatte es noch nie von diesem Blickwinkel aus betrachtet. Es wirkte noch größer, als ich es erinnerte, monolithisch, sein geschwungenes Ziegeldach fast monströs. Ich sah, dass ich die Vorhänge in meinem Zimmer nicht zugezogen hatte, und dachte an meinen Futon, mein Gemälde von Tokio an der Wand, das Bild von Jason und mir unter den Perlengalaxien.
    Ich kramte in meiner Tasche nach dem Hausschlüssel, schaute mich ein letztes Mal um und schlüpfte dann lautlos in die Gasse. In dem schmalen Durchgang zwischen den beiden Gebäuden blieb ich stehen und spähte über die Klimaanlage hinweg. Meine Umhängetasche lag unter dem Schnee. Ich drückte mich weiter an der Wand des Hauses, unterhalb meines Fensters entlang. Zehn Meter von der Ecke entfernt ließ mich etwas innehalten.
    Ich stand in einer Lücke im Schnee, einer langen Furche schwarzen Asphalts. Ich betrachtete sie verwirrt. Welcher Instinkt

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