Tokio
meine Wange, und ich wich instinktiv zurück.
»Die Art, wie das Blut in die Haut schießt. Faszinierend.« Er ließ die Hand sinken und zwinkerte mir verschwörerisch zu.
»Du kommst morgen wieder.«
Und er behielt Recht. Am nächsten Tag hatte ich den fast unwiderstehlichen Drang, zu Shi Chongming zu gehen, aber wie sollte ich mich ihm nach der gestrigen wütenden Auseinandersetzung nähern? Mir war klar, dass ich geduldig sein und eine Woche warten musste. Doch statt im Haus inmitten meiner Bücher und Unterlagen zu warten, machte ich mich zur Omotesando auf und erstand das erstbeste Kleid, das nicht oberhalb des Knies endete und keinen tiefen Ausschnitt hatte. Eine Art Kasackkleid aus steifem schwarzem Stoff mit Dreiviertelärmeln. Es war elegant und sagte nicht viel aus, außer: »Ich bin ein Kleid.« An jenem Abend warf Mama Strawberry einen kurzen Blick darauf und nickte. Dann tippte sie auf meinen Arm, deutete auf einen Tisch mit Kunden und schickte mich schnurstracks an die Arbeit.
Ich erinnere mich noch immer sehr genau an jene erste Woche, sehe mich im Klub sitzen und hinaus auf die Stadt starren, während ich mich fragte, welches Licht wohl zu Shi Chongmings Fenster gehörte. Tokio stöhnte unter einer Hitzewelle, und die Klimaanlage lief auf vollen Touren. In meiner Erinnerung sehe ich mich selbst von außerhalb des Gebäudes, und es ist so, als würde ich im Nichts schweben, meine Silhouette leuchtend hell und verschwommen hinter dem Panoramafenster, mein ausdrucksloses weißes Gesicht kurz verdeckt, wenn Marilyn vorbeischaukelt, und niemand ahnt auch nur, welch irre Gedanken mir durch den Kopf gehen. Strawberry schien mich zu mögen, was ich überraschend fand, denn ihre hohen Ansprüche waren legendär. Sie gab jeden Monat Tausende von Dollars für Blumen aus: krebsrote Protea, die in gekühlten Kartons aus Südafrika eingeflogen wurden, Amaryllis, Ingwerlilien und Orchideen von den höchsten Gipfeln Thailands. Manchmal starrte ich sie unverhohlen an, weil sie sich so aufrecht hielt und mit solch offensichtlichem Vergnügen sexy war. Sie war sexy, und sie wusste es. Und damit hatte es sich. Ich beneidete sie um ihr Selbstvertrauen. Sie liebte ihre Kleider - jeden Abend trug sie etwas anderes: rosa Satin, weißer Krepp de Chine, ein magentarotes Kleid mit einem paillettenübersäten Schulterträger, »aus Wie angelt man sich einen Millionär«, erklärte sie, und bei diesen Worten reckte sie ihre Hüfte vor, zog einen Schmollmund und schaute über ihre stramme Schulter zu den Kunden. »Es ist >Charmeuse<, ja«, als ob es ein Name wäre, den man kennen müsste. »Strawberry kann nicht hübsch gehen, wenn nicht wie Marilyn angezogen.« Und dann wedelte sie mit ihrer perlmutternen Zigarettenspitze und erzählte jedem, der es hören wollte: »Marilyn und Strawberry gleiche Figur. Nur Strawberry mehr zierlich.« Sie war aufbrausend und fauchte Leute ständig an, doch ich sah sie nie wirklich aus der Fassung, bis zu meinem fünften Abend im Klub. Da geschah etwas, das eine gänzlich andere Seite von Mama Strawberry offenbarte.
Es war ein brütend heißer Abend, so heiß, dass Dampf von der Stadt aufzusteigen schien, eine Art Kondensation, die über den Dächern der Gebäude waberte und den roten Sonnenuntergang flirren ließ. Alle bewegten sich träge, selbst Strawberry, während sie strahlend in ihrem langen, paillettenbestickten »Happy Birthday, Mr. President«-Kleid um die Tanzfläche herumscharwenzelte. Hin und wieder blieb sie stehen, um dem Klavierspieler etwas zuzuflüstern oder ihre Hand auf die Rückenlehne eines Stuhls zu legen und schallend über den Witz eines Kunden zu lachen. Es war gegen zweiundzwanzig Uhr, und sie hatte sich an die Bar zurückgezogen, wo sie an einem Glas Champagner nippte. Doch plötzlich knallte sie ihr Glas mit einem lauten Klirren auf den Tresen und starrte mit versteinerter Miene und bleichem Gesicht zum Eingang.
Sechs massige Schlägertypen in schicken Anzügen und mit
Dauerwelle waren zur Aluminiumtür hereingekommen und schauten sich im Klub um, während sie ihre Manschetten zurechtzupften und sich mit den Fingern zwischen ihren Kragen und dicken Hälsen entlangfuhren. In der Mitte der Horde schob ein schlanker Mann mit einem schwarzen Rollkragenpullover und einem Pferdeschwanz einen Rollstuhl, in dem ein winziger, insektengleicher Mann saß, gebrech
lieh wie eine alte Echse. Sein Kopf war klein, seine Haut trocken wie Pergament und von Kerben überzogen wie
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