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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Ich komme, wann ich will.«
    Ich starrte auf die Karte in meinen Händen. Ich hatte noch nie eine so schöne Visitenkarte gesehen. Sie war aus rau-em, ungebleichtem handgeschöpften Papier mit gerissenen Kanten. Im Gegensatz zu den meisten Karten stand keine Adresse darauf und keine englische Übersetzung auf der Rückseite, sondern bloß eine Telefonnummer und Fuyukis Kanji, nur sein Nachname, handkalligrafiert in Tusche.
    »Was ist los?«, flüsterte Fuyuki. »Stimmt etwas nicht?«
    Ich schüttelte den Kopf und betrachtete weiter die Karte. Mir ging durch den Sinn, wie wunderschön doch dieses alte Alphabet mit den kleinen Kanji war und wie trist und bieder das Englische im Vergleich dazu.
    »Was ist los?«
    »Winterbaum«, murmelte ich. »Winterbaum.« Einer der Männer am Ende des Tisches fing an zu lachen, bevor ich zu Ende gesprochen hatte. Als niemand mit ein stimmte, ging sein Lachen in ein Husten über. Er hielt sich seine Serviette vor den Mund und trank eilig einen Schluck. Verblüfftes Schweigen trat ein. Irina schaute verärgert und schüttelte mitleidig den Kopf. Doch Fuyuki beugte sich vor und sagte in seinem wispernden Japanisch: »Mein Name. Woher weißt du, was mein Name bedeutet? Sprichst du Japanisch?«
    Ich sah ihn an, und mein Gesicht war kreidebleich. »Ja«, antwortete ich zögernd. »Nur ein bisschen.« »Und du kannst es auch lesen?« »Nur fünfhundert Kanji.«
    »Fünfhundert? Sugoi. Das ist eine Menge.« Die Leute schauten mich an, als würden sie erst jetzt erkennen, dass ich ein lebendes Wesen und kein Einrichtungsgegenstand war.
    »Und wo kamst du noch mal her?«
    »England?« Es klang wie eine zaghafte Frage.
    »England?« Er beugte sich vor und musterte mich eingehend. »Sag mir, sind in England alle Mädchen so hübsch?«
    Gesagt zu bekommen, dass ich hübsch sei ... nun, zum Glück passierte das nicht allzu oft, denn ich wurde dann ganz nervös und verlegen und dachte an all die Dinge, die ich wahrscheinlich niemals erleben würde, selbst wenn ich
    »hübsch« wäre. Die Bemerkung des alten Fuyuki ließ mich erröten, und von jenem Moment an sagte ich kein Wort mehr, rauchte eine Zigarette nach der anderen und nutzte jede Gelegenheit, um vom Tisch aufzustehen. Wenn ein frisches Glas Wasser oder ein neuer Teller mit Knabbereien von der Bar geholt werden musste, sprang ich auf und holte es.
    Die Krankenschwester hatte sich den ganzen Abend über nicht gezeigt. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich verstohlene Blicke in ihre Richtung warf - auf ihren Schatten an der Nischenwand. Ich bemerkte, dass ihre Anwesenheit die Kellner nervös machte. Normalerweise ging einer von ihnen hin und erkundigte sich, was der Besucher trinken wollte, doch an diesem Abend schien Jason der Einzige zu sein, der den Mut aufbrachte, sie anzusprechen. Als ich an die Bar kam, um ein frisches heißes Handtuch zu holen, sah ich ihn in der Nische. Er hatte ihr die Whisky karte gebracht, ganz selbstbewusst und furchtlos, lehnte jetzt sogar lässig mit verschränkten Armen am Tisch und wartete auf ihre Bestellung, was mir erlaubte, sie einen Moment lang zu studieren.
    Sie saß seitlich zu mir und bot einen wahrlich erstaunlichen Anblick. Jeder Zentimeter ihrer Haut war mit einer dicken Schicht aus weißem Puder bedeckt, der sich in den Falten an Hals und Handgelenken klumpte. Die einzige Unterbrechung im Weiß waren ihre seltsamen Augen, klein und dunkel wie Fingerlöcher in Teig, weit auseinander stehend und so tief im Kopf liegend, dass die Höhlen wie leer wirkten. Mama Strawberry hatte sich Sorgen gemacht, ich könnte die Krankenschwester anstarren, aber es war gar nicht möglich, ihr wirklich ins Gesicht zu sehen, selbst wenn man gewollt hätte. Aus ihrer merkwürdigen Haltung schloss ich, dass sie schlechte Augen hatte, denn sie hielt sich die Getränkekarte so dicht vor die Nase, als würde sie daran schnüffeln. Ich ging nicht sofort wieder zum Tisch zurück, sondern verharrte einen Moment an der Bar und tat so, als würde ich das heiße Handtuch näher unter die Lupe nehmen.
    »Sie ist irgendwie sexy«, hörte ich Jason zur Thekenbelegschaft sagen, als er mit ihrer Bestellung zurückkam. »Sexy auf eine abgefahrene S/M-Art.« Er sah über seine Schulter zu ihr, und um seine Mundwinkel spielte ein amüsiertes Lächeln.
    »Schätze, wenn's hart auf hart kommt, würd ich sie nicht von der Bettkante stoßen.« Dann drehte er sich um, bemerkte mich, zwinkerte mir zu und hob eine Augenbraue, so als

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