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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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vernunftbestimmte Verbindung eingehen würde, vielleicht mit jemandem von der Universität, jemandem mit fortschrittlichem Denken, der sich, ganz wie unser Präsident Chiang Kai-schek, die Zeit nimmt, China und seine Zukunft ohne Scheuklappen zu betrachten. Allerdings hatte ich dabei nicht mit der Einmischung meiner Mutter gerechnet.
    Wie ärgerlich! Sich vorzustellen, dass meine Mutter selbst heute noch so oft meine Gedanken bestimmt. Ich bebe vor Scham, wenn ich an sie denke, wenn ich an meine ganze abergläubische und rückständige Familie denke. Die Familie, die in Wohlstand lebte, doch niemals den Wunsch oder die Gelegenheit hatte, dem Provinzleben zu entfliehen, den allsommerlichen Poyang-Überschwemmungen den Rücken zu
    kehren. Vielleicht bin ich selbst auch nie wirklich entkommen, und vielleicht ist das die schlimmste der unerschütterlichen Wahrheiten über mich: der stolze junge Linguist von der Jinling-Universität, der hinter der Fassade nur ein Junge aus einem China ist, das nicht nach vorn blickt und sich nie ändert
    - das nur stillsteht und auf den Tod wartet. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die grün-gelbe Landschaft mit weißen Ziegen und Wacholderbäumen, die Ebenen, wo ein Mann gerade genug anbaut, um seine Familie zu ernähren, wo die Enten frei umherlaufen und Schweine die Bohnengärten aufwühlen. Und ich frage mich: Kann ich je hoffen, meiner Vergangenheit zu entfliehen?
    Rückblickend erkenne ich natürlich, dass meine Mutter von Anfang an große Pläne mit Shujin hatte. Sie waren gemeinsam beim Wahrsager des Dorfes gewesen, einem alten Mann, an
    den ich mich nur mit Widerwillen erinnere, ein Blinder mit einem langen weißen Bart, der unerbittlich von einem Kind mit Strohsandalen von Dorf zu Dorf geführt wurde wie ein Tanzbär. Der Wahrsager notierte sich sorgfältig Datum, Uhrzeit und Ort von Shujins Geburt und kam mit ein paar hingekritzelten Schriftzeichen und nach Schütteln seiner geheimnisvollen Elfenbeintäfelchen alsbald und sehr zur Freude meiner Mutter zu dem Schluss, dass Shujin das perfekte Verhältnis der fünf Elemente besaß, das korrekte Gleichgewicht von Metall, Holz, Wasser, Feuer und Erde, um mir Scharen von Söhnen zu gebären.
    Selbstverständlich weigerte ich mich. Und hätte mich bis zu diesem Tag geweigert, wäre meine Mutter nicht krank geworden. Zu meinem Ärger, zu meiner Verzweiflung schwor sie, selbst als sie dem Tod so nah war, nicht ihrem Volksglauben ab, verlor sie nicht ihr Misstrauen gegenüber moderner Technologie. Statt zu den guten fortschrittlichen Krankenhäusern in Nanking zu reisen, wie ich ihr eindringlich ans Herz legte, vertraute sie auf die örtlichen Quacksalber, die viel Zeit damit zubrachten, ihre Zunge zu untersuchen, um alsdann aus dem Krankenzimmer zu treten und zu erklären:
    »Ein unverträgliches Übermaß an Yin. Es ist ein Mysterium, ein Skandal, dass Doktor Yuan das nicht längst erkannt hat.«
    Doch ihren Gebräuen, ihren Salben und Prophezeiungen zum Trotz, wurde meine Mutter immer kränker.
    »Da siehst du, was du an deinem Aberglauben hast«, sagte ich zu ihr. »Es ist dir doch bewusst - oder nicht -, dass du mich mit deiner Weigerung, nach Nanking zu kommen,
    zerstörst?«
    »Hör zu.« Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. Ihre braune Hand, wettergegerbt von Jahren auf dem Land, ruhte auf dem gebügelten Ärmel des westlichen Anzugs, den ich trug. Ich erinnere mich daran, dass ich die Hand betrachtete und dachte: Ist dies wirklich das Fleisch, das mir Leben geschenkt hat? Ist es das wirklich? »Du kannst mich immer noch glücklich machen.«
    »Glücklich?«
    »Ja.« Ihre Augen glänzten fiebrig. »Mach mich glücklich. Heirate die Tochter der Wangs.«
    Und schließlich, aus keinem anderen Grund als aus Resignation und Schuldgefühlen, kapitulierte ich. Welch unerhörte Macht unsere Mütter doch haben! Selbst der erhabene Chiang Kai-schek beugte sich in gleicher Weise dem Willen seiner Mutter, ging sogar ihr zuliebe eine arrangierte Ehe ein. Ich hatte die allergrößten Vorbehalte - was für eine unglückselige Verbindung: das Mädchen vom Dorf mit ihren Ri-shu- Almanachen, ihren Mondkalendern, und ich, der scharfsinnige Rationalist, vertieft in seiner Logik und seinen fremdsprachigen Wörterbüchern. Ich machte mir große Sorgen darüber, was meine Kollegen denken würden, denn ich bin, wie die meisten von ihnen, ein ergebener Republikaner, ein Bewunderer der klaren, fortschrittlichen Ideologie der Kuomintang-Regierung, ein

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