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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Bett hängt das geschnitzte Abbild eines Qilin, um uns zu helfen, einen Sohn zu zeugen. Und an alle Türen und Fenster sind kleine gelbe Mantras gebunden, selbst an die Bäume draußen vor dem Haus.
    »Meine Güte«, schimpfe ich. »Kannst du denn nicht sehen, wie sehr dieses Verhalten unsere Nation vom Fortschritt abgehalten hat?«
    Doch sie hat kein Verständnis für den Aufbau einer Nation oder den Fortschritt. Sie hat Angst vor dem Neuen und Unvertrauten. Sie trägt noch immer Hosen unter ihrem Qi-pao und findet die jungen Frauen in Shanghai mit ihren Seidenstrümpfen und kurzen Röcken skandalös. Sie macht sich Sorgen, ich könnte sie vielleicht nicht lieben, weil ihre Füße nicht gebunden sind, und hat es irgendwie geschafft, sich ein altes, besticktes Paar Holzschuhe zu besorgen, im mandschurischen Stil, die ihren Füßen die spitze Form verleihen. Manchmal sitzt sie auf dem Bett und betrachtet ihre Füße, drückt sie und wackelt mit den Zehen, als ob natürliche, uneingezwängte Füße etwas wären, für das sie einen gewissen Ekel empfindet.
    »Bist du sicher, Chongming, dass diese Füße hübsch sind?«
    »Red keinen Unsinn. Natürlich bin ich sicher.«
    Erst gestern Abend, als ich mich zum Schlafengehen bereitmachte, mein Haar einölte und meinen Pyjama anzog, fing sie wieder mit ihren Fragen an. »Wirklich? Bist du auch ganz sicher?«
    Ich seufzte, setzte mich auf einen kleinen Hocker und holte eine Schere mit Elfenbeingriff aus der Truhe. »Es war nichts«, ich schnitt meinen Daumennagel, »absolut nichts Anziehendes an verkrüppelten Füßen.«
    »Oh«, entfuhr es Shujin hinter mir entsetzt. »O nein!«
    Ich ließ meine Hand sinken und drehte mich um. »Was ist
    denn los?«
    Sie saß aufrecht da, ganz aufgebracht, und ihre Wangen glühten. »Was los ist? Du bist los! Was, um Himmels willen, tust du da?«
    Ich sah auf meine Hände. »Ich schneide meine Nägel.«
    »Aber ...«, sie schlug entsetzt die Hände vors Gesicht, »... Chongming, draußen ist es dunkel. Hast du das denn nicht gesehen? Hat deine Mutter dich denn gar nichts gelehrt?«
    Und da erinnerte ich mich an einen Aberglauben aus meiner Kindheit: Wenn man sich nach Einbruch der Dunkelheit die Nägel schneidet, lud man damit Dämonen ins Haus ein. »Ach, herrje, Shujin«, sagte ich in oberlehrerhaftem Ton, »jetzt übertreibst du es aber wirklich ...«
    »Nein!«, beharrte sie mit bleichem Gesicht. »Nein. Willst du Tod und Zerstörung über unser Haus bringen?«
    Ich schaute sie lange an, denn ich wusste nicht, ob ich lachen sollte oder nicht. Schließlich, da ich keinen Grund sah, sie gegen mich aufzubringen, gab ich das Nagelschneiden auf und legte die Schere in die Truhe zurück. »Meine Güte«, schimpfte ich leise, »ein Mann kann nicht einmal in seinem eigenen Haus tun und lassen, was er will.«
    Erst später in jener Nacht, als sie schlief und ich wach lag und grübelnd an die Decke starrte, fielen mir ihre Worte wieder ein. Tod und Zerstörung. Tod und Zerstörung, die letzten Dinge, mit denen wir uns jetzt beschäftigen sollten. Und doch wundere ich mich manchmal über diesen Frieden, diese langen Tage, wenn Shujin und ich uns unter dem düsteren Himmel
    von Nanking zankten. Sind diese Tage zu friedlich? Zu träumerisch? Und dann frage ich mich: Warum muss ich immer wieder an jenen schrecklichen Sonnenaufgang vergangene Woche denken?
    9
    Während meiner Teenagerjahre, in der Klinik und an der Uni, wann immer ich mir meine Zukunft ausmalte, stellte ich mir keine Reichtümer vor, daher wusste ich wirklich nicht, was ich mit Geld anfangen sollte. An jenem Abend, als ich das Trinkgeld und meinen Lohn für den Abend erhielt und feststellte, dass es umgerechnet etwas über einhundertfünfzig Pfund ergab, stopfte ich es ganz nach unten in meine Umhängetasche, zog den Reißverschluss zu, schob die Tasche eilig in den Wandschrank und wich mit pochendem Herzen einen Schritt zurück. Einhundertfünfzig Pfund! Ich starrte auf die Tasche. Einhundertfünfzig Pfund!
    Ich hatte das Geld verdient, das ich für die Miete brauchte, und es bestand keine Notwendigkeit, in den Nachtklub zurückzukehren, doch es geschah etwas Sonderbares. Die Kunden, die mir so gebannt zugehört hatten, ließen einen winzigen Teil von mir aufblühen wie eine Blume. »Ich weiß
    immer, wenn eine Frau ihr Vergnügen gehabt hat«, bemerkte Jason trocken am Ende des Abends, als wir gemeinsam im Fahrstuhl standen. »Das Blut verrät es.« Er legte seinen Handrücken an

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