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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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sein Versprechen nicht gehalten. Ich wartete den ganzen Tag, saß auf dem
    Sofa im Wohnzimmer, meine Bücher um mich verstreut und
    alle Jalousien geschlossen, um die Hitze auszusperren. Ich ließ
    das Telefon nicht aus den Augen. Aber wann immer es klingelte, war es für Jason. Ich riss den Hörer von der Gabel, doch dann meldete sich wieder nur eine Japanerin, die sehnsüchtig in die Leitung seufzte und mir nicht glauben wollte, dass er nicht da sei.
    An jenem Sonntag nahm ich fünf Nachrichten für ihn entgegen, alle von verschiedenen jungen Frauen. Die meisten waren lieb und traurig, einige unhöflich. Einer stockte fast der Atem, als sie meine Stimme hörte, und sie kreischte mich in schrillem Japanisch an: »Wer, zum Teufel, bist du? Was, zum Henker, denkst du dir dabei, einfach ans Telefon zu gehen? Hol Jason an das Scheißtelefon! SOFORT.«
    Ich vertrieb mir die Zeit damit, all ihre Namen zu notieren. Ich malte Gesichter daneben, versuchte mir vorzustellen, wie sie aussahen. Dann, als auch das langweilig wurde, saß ich einfach nur da und starrte trübselig auf das Telefon.

    12
    Nanking, 1. September 1937
    Besorgniserregende Nachrichten erreichen uns aus dem Osten. Es ist genau so, wie ich mir gedacht habe. Die Japaner sind in Shanghai und kämpfen sich Straße um Straße vorwärts. Sind es tatsächlich die Japaner und nicht die Kommunisten, die die größte Bedrohung für unsere innere Stabilität darstellen?
    Könnte es sogar sein, dass die Kommunisten recht daran getan haben, Chiang dieses militärische Bündnis aufzuzwingen? Pu Yi, die japanische Marionette, sitzt seit sechs Jahren auf seinem geborgten Thron in der Mandschurei, woran unser Präsident keine Schuld trägt. Und vor fünf Jahren haben die Japaner Shanghai bombardiert. Doch niemand hat je über unsere Sicherheit hier in Nanking gesprochen. Bis jetzt. Jetzt, und erst jetzt, fangen die Bürger an, Vorsorge zu treffen. Ich habe diesen Vormittag damit zugebracht, unser blau gedecktes Dach schwarz anzustreichen, um es vor den japanischen Bombern zu verbergen, die, wie man uns warnt, eines Tages mit der Morgensonne hinter dem Purpurberg aufsteigen werden.
    Gegen zehn, als ich mit dem halben Dach fertig war, ließ
    etwas mich innehalten. Ich weiß nicht, ob es ein Geräusch oder eine Vorahnung war, aber während ich dort auf meiner Leiter stand, musste ich plötzlich nach Osten schauen. Gut zwanzig andere Männer wie ich zeichneten sich wie Strichmännchen gegen den Himmel ab. Und weiter, viel weiter weg, jenseits von ihnen, der endlose Horizont. Der Purpurberg. Der rote Osten.
    Shujin hat immer behauptet, dass Nankings Zukunft vom Unheil bedroht ist. Auf ihre schwarz seherische Art sprach sie immer wieder davon. Sie sagt, sie hätte von dem Augenblick an, als sie vor einem Jahr aus dem Zug gestiegen sei, gewusst, dass sie hier gefangen wäre: Sie sagt, dass das Gewicht des Himmels sich unvermittelt auf sie herabgesenkt und die Luft ihre Lunge infiziert hätte und die Zukun|f der Stadt so unerbittlich auf ihr lastet, dass sie sich nur mit Mühe aufrecht halten könnte. In jenem Moment, dort auf dem Bahnsteig von Nanking, blickte sie zu den Bergen auf, die sich dunkel wie die Rippen eines geöffneten Brustkorbs erhoben, und wusste, dass von dorther große Gefahr drohte. Sie würden Shujin festhalten wie eine Klaue, jene todbringenden Berge, und die Züge würden aufhören zu fahren. Dann würde Nanking sie verschlingen und mit seiner dünnen, ätzenden Luft auflösen. Ich weiß, dass an jenem Tag, als ich sie vom Poyang-See
    nach Nanking begleitete, etwas Bedeutsames mit ihr passiert war. Ich erinnere mich an einen leuchtenden Farbfleck während der Zugfahrt. Einen kirschroten Sonnenschirm. Ein Mädchen in den Reisfeldern, das auf eine Ziege wartete, die es hinter sich her zog. Als das Tier bockig stehen blieb, zerrte sie halbherzig an seinem Strick. Wir waren irgendwo südlich von Wuhu zum Stehen gekommen, und alle im Zug hielten in dem, was sie gerade taten, inne und wandten sich zum Fenster, um das Mädchen und die Ziege zu beobachten. Endlich kapitulierte das Tier, und das Mädchen ging weiter. Alsbald war außer dem smaragdgrünen Reisfeld nichts mehr zu sehen. Die anderen Fahrgäste kehrten zu ihren Spielen oder Unterhaltungen zurück, doch Shujin rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte weiterhin auf die Stelle, an der das Mädchen gestanden hatte.
    Ich beugte mich zu ihr und flüsterte: »Was siehst du denn da?«
    »Was ich sehe?« Die

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