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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Hüllen prahlerisch, aber man hätte denken können, sie würden nur Sex zeigen, wenn man die Horden pubertärer Jungen sah, die sich immer in jener Ecke der Videothek herumdrückten. Ich hatte nie wirklich eins von diesen Videos im Haus entdeckt, also wusste ich nicht, ob die Russinnen die Wahrheit sagten. Aber ich hatte Jasons Fotos gesehen.
    »Ich bin seit vier Jahren in Asien«, hatte er mir erzählt. »Du kannst dir deine Taj Mahals und deine Angkor Wats an den Hut stecken. Ich suche nach etwas ...«, er hielt inne und rieb seine Finger gegeneinander, so als wollte er die Worte
    aus Luft formen, »... ich suche nach etwas Größerem - etwas anderem.« Einmal war ich zufällig an seinem Zimmer vorbeigekommen, als die Tür offen stand und er nicht da war. Ich konnte nicht widerstehen und ging hinein.
    Ich erkannte, was die Russinnen meinten. Jeder Zentimeter der Wand war mit Fotos bedeckt, und die Bilder waren so schrecklich, wie sie gesagt hatten: hier ein erbarmungswürdig verkrüppelter Mann, nackt bis auf eine Blumenkette aus Ringelblumen, der halb tot am Ufer eines Flusses - des Ganges, wie ich vermutete - lag; dort junge, an Kreuze genagelte Filipinos und kreisende Geier, die gierig auf das Menschenfleisch in den Türmen des Schweigens einer Parsen-Begräbnisstätte warteten; dann Gebetsfahnen und glimmender Wacholder bei einer Himmelsbestattung auf einem Knochenfriedhof außerhalb von Lhasa. Aber, dachte ich, während ich ein Foto von einer großen Rauchwolke betrachtete, die von einem schemenhaften Umriss auf einer Plattform aufstieg, unter der die gekritzelten Worte »Scheiterhaufen in Varanasi«
    standen, diese Bilder besaßen eine seltsame, obsessive Schönheit. Als ich schließlich unbemerkt wieder auf den Korridor hinausschlüpfte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass die Russinnen Unrecht hatten. Jason war weder sonderbar noch morbide, er war faszinierend.
    Angeblich arbeitete er als Kellner im Klub, doch ich hatte ihn die ganze Woche über so gut wie nie ein Tablett anfassen sehen. Manchmal blieb er an dem einen oder anderen Tisch stehen und plauderte eine Weile freundlich mit den Gästen, so als wäre er, nicht Strawberry, der Besitzer. »Er Kellner, aber er nichts tun«, zischte Irina. »Er muss nichts arbeiten, weil Mama Strawberry ihn liebt.« Sie schien das Prestige zu genießen, das ein Gaiin-Kellner ihr verlieh. Und dann sah er auch noch gut aus. Die japanischen Hostessen kicherten und wurden rot wie Backfische, wenn er vorbeiging. Oft saß er an Strawberrys Schreibtisch, trank (Ihampagner, hatte seinen Kellnersmoking aufgeknöpft und stellte seinen Körper zur Schau, während Mama Strawberry affektiert kicherte, an den Trägern ihres Kleids herumzupfte, sich manchmal sogar auf ihrem Stuhl zurücklehnte und die Hände an ihrem Körper hinabgleiten ließ. Er verbrachte nicht viel Zeit im Haus - und es war ungewöhnlich, dass sein Zimmer offen stand. Er schloss es meist ab, wenn er früh am Tag, noch bevor wir anderen wach waren, wegging. Oder er nahm sich vom Klub aus ein Taxi und tauchte bis zum nächsten Abend nicht mehr auf. Vielleicht trieb er sich in den Parks herum, auf der Suche nach Frauen, die auf Bänken schliefen. Doch im Haus hinterließ er überall seine Spuren - ein achtlos auf der Treppe herumliegendes Paar Mokassins, nach Limonen riechender Rasierschaum, der auf der Badezimmerablage trocknete, blassrosa Visitenkarten mit Namen wie Yuko und Moe in weiblicher Handschrift, die am Wasserkessel lehnten.
    Ich tat so, als würde mir das alles nichts ausmachen, doch es machte mir etwas aus. Insgeheim war ich völlig vernarrt in Jason.
    Ich besorgte mir bei Kiddyland, einem Geschäft für Schulbedarf an der Omotesando, einen Kalender. Er war rosa, mit einem durchsichtigen Plastikeinband, der ein Glitzergel enthielt, das hin-und herschwappte. Ich hielt es immer wieder vor dem Fenster hoch und betrachtete staunend, wie sich das Licht in ihm brach. Ich hatte Sahnetorten-Duft-. sticker, und für jeden Tag, der verstrich, klebte ich einen Sticker über das Datum in meinem Kalender. Manchmal fuhr ich mit dem Zug
    nach Hongo, setzte mich ins Bam-bi-Cafe und beobachtete das Kommen und Gehen der Studenten durch das große sonnenbeschienene Nicamon-Tor. Doch Shi Chongming bekam ich nicht zu Gesicht. Es blieben noch fünf Tage, vier Tage, drei Tage, zwei. Er hatte eine Woche gesagt. Das bedeutete Sonntag. Doch es wurde Sonntag, und er meldete sich nicht.
    Ich konnte es nicht glauben. Er hatte

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