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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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würde er mich an einem komischen Witz teilhaben lassen. »Klasse Beine«, erklärte er und deutete mit einem Nicken auf die Krankenschwester. »Oder vielleicht sind es auch nur die Stilettoabsätze, die mich scharf machen.«
    Ich sagte nichts, griff mir das Oshibori und wandte mich ab, damit er nicht sah, dass ich rot anlief. Die Sache mit Jason war, dass ich mich in seiner Gegenwart immer ein wenig so fühlte, als müsste ich gleich losheulen.
    Es ist schon seltsam, auf welche Ideen einen Menschen bringen können. Viel, viel später an jenem Abend guckte ich auf meine Beine, die ich sittsam unter dem Tisch zusammengepresst hielt. Ich war ziemlich betrunken und dachte: Wie sehen klasse Beine aus? Ich strich meine Strumpfhose glatt und öffnete die Knie ein wenig, damit ich meine Schenkel besser in Augenschein nehmen konnte. Dann drehte ich die Beine seitwärts, betrachtete meine Waden und fragte mich, ob das wohl »klasse Beine« wären.

    10
    Nanking, 4. April 1937, das Fest der
    lichten Klarheit
    Meine Mutter muss sich vor Lachen ausschütten - sie muss auf mich herabschauen und mich für all meine Vorbehalte gegen diese Ehe und meine ursprüngliche Verärgerung auslachen. Denn wie es scheint, erwarten Shujin und ich ein Kind! Ein Kind! Man stelle sich das nur mal vor. Shi Chongming, die hässliche kleine Kröte, wird Vater! Endlich, endlich gibt es wirklich Grund zum Feiern. Ein Kind, das den Naturgesetzen und der Liebe Ordnung geben wird, ein Kind, das den Sinn hinter den heiklen Gesellschaftsregeln offenbaren wird. Ein Kind, das mir helfen wird, die Zukunft rückhaltlos und freudig anzunehmen.
    Shujin, getrieben von ihrem Aberglauben, befindet sich natürlich in heller Aufregung. Es gibt so viele wichtige Dinge zu bedenken. Ich beobachte sie amüsiert, versuche, mir alles zu merken, alles mit großer Ernsthaftigkeit zu behandeln. Als Erstes kam an diesem Morgen eine lange Liste von verbotenen Speisen. Von nun an sind Tintenfisch und Ananas im Haus
    verboten, und ich soll täglich zum Markt gehen, um schwarze Hühner, Leber, Pflaumen, Lotussamen und Klöße aus geronnenem Entenblut zu kaufen. Außerdem fällt mir von heute an die Aufgabe zu, die Hühner zu töten, die gackernd vom Markt eintreffen; denn wenn Shujin irgendein Tier tötet, selbst als Nahrung, wird unser Kind die Gestalt dieses Tiers annehmen.
    Aber, und das ist das Wichtigste von allem, wir dürfen von unserem Sohn (sie ist gewiss, dass es ein Sohn wird) niemals als »Baby« oder »Kind« sprechen, denn die bösen Geister könnten das hören und versuchen, ihn bei seiner Geburt zu stehlen. Sie hat ihm einen Namen gegeben, der die Geister in die Irre führen soll, einen »Milchnamen«, wie sie es nennt. Von nun an müssen wir unser Kind »Mond« nennen, wenn wir von ihm sprechen. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele böse Wesen es darauf abgesehen haben, ein Neugeborenes zu stehlen. Die Seele unseres Monds ist der kostbarste Fang, den ein Dämon machen kann. Und«, bei diesen Worten hielt sie ihre Hand hoch, um meine Einwände im Keim zu ersticken, »vergiss nie - unser kleiner Mond ist sehr zart. Bitte erhebe in meiner Nähe nicht deine Stimme und streite nicht. Wir dürfen seine Seele nicht verschrecken.«
    »Verstehe«, sagte ich mit einem leisen Lächeln, weil ich dieses Maß an Einfallsreichtum wahrlich bewundernswert fand. »Nun, wenn das so ist, soll sein Name Mondseele sein. Und lass von diesem Moment an nichts als Frieden in diesen vier Wänden herrschen.«
    11
    Die Russinnen zeigten sich nicht überrascht, dass Jason Witze über die Krankenschwester machte. Sie sagten, sie hätten immer gewusst, dass er merkwürdig wäre. Dass seine Wände mit abscheulichen Fotos drapiert seien und er oft eingeschweißte Zeitschriften von Versandadressen in Thailand geschickt bekam und im Haus manchmal Dinge ohne großen
    Wert verschwanden: Irinas mit echtem Tierfell beklebte Figur eines kämpfenden Bären, ein einzelner mit Wolfspelz gefütterter Handschuh, ein Foto von den Großeltern der Zwillinge. Vielleicht war er ein Teufelsanbeter, spekulierten sie. »Er gucken kranke Sachen, so krank, dass du kotzt. Seine Videos, immer Videos von Tod.«
    Man konnte die Videos, von denen sie sprachen, in den Regalen der Videotheken in der Waseda Street ausgestellt sehen. Sie trugen Titel wie Gesichter des Todes und Leichen- hallen-Wahnsinn, und die Schriftzüge schienen immer von Blut zu triefen. Echte Filmaufnahmen von Obduktionen!, versprachen die

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