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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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unhöflich sein. Wirklich nicht.«
    Doch er ging einfach weiter und verschwand schließlich in dem Hain jenseits der staubigen Hecke. Ich drehte mich um und trat mit dem Fuß gegen den niedrigen Zaun, der den Pfad säumte, dann vergrub ich mein Gesicht in den Händen und begann zu zittern.
    Ich lief wie in Trance nach Hause, ging schnurstracks in mein Zimmer, ohne mit den Russinnen zu reden, die im Wohnzimmer fernsahen und mir hämische Worte nachriefen.
    Ich knallte die Zimmertür hinter mir zu, lehnte mich mit dem Rücken dagegen und lauschte mit geschlossenen Augen auf meinen Herzschlag.
    Wenn man weiß, dass man mit einer Sache Recht hat, dann
    ist es wichtig, nicht lockerzulassen.
    Schließlich öffnete ich die Augen, holte meine Farben, die ich im Alkoven aufbewahrte, mischte einige an, stellte die Pinsel in einem Wasserglas vor die Wand und machte das Fenster sperrangelweit auf. Es dämmerte bereits. Ein Geruch wie von verbranntem Essen hing in der Luft, und die Lichter von Tokio wurden für die Nacht entzündet. Die Stadt zog sich wie eine kleine Galaxie in die Ferne. Ich stellte mir vor, wie es vom Weltall aus wirken musste: Gebäude wie Gebirge, Straßen, die glitzerten wie Kaiser Qin Shi Huangdis Quecksilberflüsse.
    Wie konnte das sein? Als die Luftangriffe endeten, als die letzten amerikanischen Bomber über den blauen Pazifik heimkehrten, gab es in Tokio über hundert Quadratmeilen an Straßenzügen, die dem Erdboden gleichgemacht waren. Die Stadt war nicht wiederzuerkennen. Der Tadon, den sie in den Armenvierteln entlang des Flusses verbrannten, jene übel riechende, qualmende Mischung aus Kohlenstaub und Teer, hing über der Stadt wie eine erdrückende Wolke.
    Die Seidenwände meines Zimmers waren bis auf Taillenhöhe zerrissen. Darunter schienen sie intakt. Ich tauchte meinen Pinsel in das Kobaltblau und begann zu malen. Ich malte eingestürzte Dächer und die dürren Sparren ausgebrannter Häuser, lodernde Feuer und schuttbedeckte Straßen. Während ich malte, gingen meine Gedanken auf Wanderschaft. Ich vergaß die Zeit, bis um neunzehn Uhr die Russinnen kamen und mich fragten, ob ich an diesem Abend nicht zur Arbeit gehen wolle.
    »Oder bleiben du hier drin? Wie Krebs, hmm?«
    Ich starrte sie mit farbverschmiertem Gesicht an, den Pinsel noch immer in der Hand.
    »O Gott! Du so losgehen?«
    Ich wusste es in jenem Moment noch nicht, doch ich konnte von Glück sagen, dass sie an meine Tür geklopft hatten, denn sonst hätte ich vielleicht einen der bedeutsamsten Abende meiner Zeit in Tokio verpasst.

    14
    Nanking, 12. November 1937
    (der zehnte Tag des zehnten Monats)
    Shanghai ist vergangene Woche gefallen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Nachricht ist noch immer unfassbar. Die besten Truppen unseres Präsidenten haben die Stadt verteidigt. Wir waren den japanischen Marineinfanteristen zahlenmäßig zehn zu eins überlegen, und doch ist die Stadt gefallen. Es heißt, die Straßen seien wie ausgestorben, nur die leeren Phosgen-und Senfgaskanister der Japaner liegen verstreut in den Rinnsteinen, und tote Zootiere verwesen in ihren Käfigen. Wir hören Nachrichten darüber, dass die kaiserliche japanische Armee über das Flussdelta ausschwärmt und, so wie es jetzt aussieht, ein Angriff auf Nanking unausweichlich ist. Zehn Divisionen stoßen in unsere Richtung vor: zu Fuß, auf Motorrädern und in Panzerwagen. Ich kann sie vor meinem
    geistigen Auge sehen, ihre Gamaschen im gelben Flussschlamm versunken, doch angetrieben von der Gewissheit, dass sie, wenn sie Nanking, die erhabene Hauptstadt unserer Nation, einnehmen, das Herz des Riesen in ihrer Faust halten.
    Aber natürlich wird es nicht soweit kommen. Unser Präsident wird nicht zulassen, dass seine Stadt Schaden nimmt. Und doch hat sich etwas in den Bürgern verändert, ihr Vertrauen ist ins Wanken geraten. Als ich heute nach meinem Vormittagsseminar (es waren nur vier Studenten da, wie Noll ich das verstehen?) nach Hause ging, lichtete sich der Nebel, der die Stadt einhüllte, und die Sonne brach sich
    Bahn, als ob der Himmel Mitleid mit Nanking hätte. Doch
    mir fiel auf, dass keine Wäsche an den Trockenstangen hing, wie das sonst beim ersten Anzeichen eines Sonnenstrahls der Fall war. Dann bemerkte ich, dass die Straßenkehrer, die armen, abgerissenen Kerle, nicht da gewesen waren und die Leute von Hauseingang zu Hauseingang huschten und mehr
    Habseligkeiten schleppten, als nötig schien. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was vor sich ging.

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