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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Frage schien sie zu verwirren. »Was
    ich sehe?« Sie wiederholte die Worte mehrmals, während
    ihre Hand an der Scheibe lag und sie noch immer auf die
    leere Stelle starrte. »Was ich sehe?«
    Erst jetzt, so viele Monate später, verstehe ich, was Shujin gesehen hatte. Als sie das Mädchen unter dem kirschroten Sonnenschirm betrachtete, erblickte sie sich selbst. Sie sagte Lebewohl. Das junge Mädchen vom Land in ihr verabschiedete sich. Als wir Nanking erreichten, zeigte es sich noch eine Weile an gewissen Stellen - etwa in den zarten Falten ihrer Kniekehlen, in dem Hauch von Farbe an ihren Armen und dem gleichförmigen Jiangxi-Dialekt, den die Bürger von Nanking so lustig fanden -, doch überall sonst kam widerstrebend die Frau zum Vorschein, die verwirrt ihre ersten Schritte in der Großstadt wagte. Der Stadt, von der sie überzeugt war, dass sie sie nie wieder verlassen würde.
    13
    Am darauf folgenden Morgen um acht sah ich Shi Chongming an der Todai-Universität eintreffen. Ich war seit sechs Uhr dreißig dort, hatte zuerst an der Straßenecke gewartet, dann, als es öffnete, im Bambi-Cafe. Ich bestellte ein großes Frühstück - Misosuppe, Thunfischschnitzel auf Reis, grünen Tee. Bevor die Serviererin meine Bestellung an die Küche weitergab, flüsterte sie mir den Preis zu. Ich sah sie verständnislos an. Dann begriff ich: Sie wollte nicht, dass ich dachte, ich würde es wieder umsonst bekommen. Ich ging mit der Rechnung zum Tresen und bezahlte. Als die Kellnerin das Essen brachte, gab ich ihr drei Tausend-Yen-Scheine. Sie starrte verblüfft auf das Geld, errötete und steckte es dann in ihre adrette kleine Schürze.
    Es war ein heißer Tag, doch Shi Chongming trug ein blaues Baumwollhemd im Mao-Stil, komische schwarze Stoffschuhe
    mit elastischen Gummibandeinsätzen, so wie englische Schulkinder sie beim Turnen tragen, und seinen merkwürdigen Anglerhut. Er ging äußerst bedächtig, seinen Blick starr auf den Bürgersteig gerichtet. Er bemerkte mich nicht neben dem Tor, bis ich aus dem Schatten der Bäume trat und mich direkt vor ihm aufbaute. Er sah meine Füße und blieb stehen.
    »Sie haben gesagt, Sie würden anrufen.«
    Langsam, sehr langsam hob Shi Chongming den Kopf. Seine
    Augen waren trüb, wie milchige Murmeln. »Sie sind wieder da«, sagte er. »Sie hatten versprochen, Sie würden nicht wieder herkommen.«
    »Sie haben gesagt, Sie würden mich anrufen. Gestern.«
    Er musterte mich eindringlich. »Sie sehen anders aus«, meinte er. »Warum sehen Sie anders aus?« »Sie haben mich nicht angerufen.«
    Er schnaubte und setzte sich wieder in Bewegung. »Sie sind sehr unhöflich«, murmelte er. »Sehr unhöflich.«
    »Aber ich habe eine Woche gewartet«, hielt ich dagegen und ging neben ihm her. »Ich habe Sie nicht angerufen, ich bin nicht hergekommen, ich habe mich daran gehalten, was wir verabredet hatten, aber Sie, Sie haben es einfach vergessen.«
    »Ich habe nicht versprochen, Sie anzurufen ...« »Doch, Sie ...«
    »Nein. Nein.« Er blieb stehen, hob seinen Gehstock und deutete damit auf mich. »Ich habe nichts versprochen. Ich verfüge über ein sehr gutes Gedächtnis, und ich weiß, dass ich Ihnen nichts versprochen habe.«
    »Ich kann nicht ewig warten.«
    Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Mögen Sie alte chinesische Weisheiten? Möchten Sie eine profunde Wahrheit über ein Maulbeerblatt hören? Möchten Sie? Bei uns heißt es, dass Geduld ein Maulbeerblatt in Seide verwandelt. In Seide! Man stelle sich das nur mal vor, aus nicht mehr als einem vertrockneten Blatt. Es braucht nur Geduld.«
    »Nun, das ist Quatsch«, erwiderte ich. »Würmer verwandeln es in Seide.«
    Er seufzte. »Ja«, sagte er. »Ja. Ich sehe kein sonderlich langes Leben für diese Freundschaft voraus. Sie etwa?«
    »Nicht wenn Sie mich nicht anrufen, obwohl Sie es versprochen haben. Sie müssen Ihre Versprechen halten.«
    »Ich muss überhaupt nichts.«
    »Aber...«, meine Stimme hob sich,»... ich arbeite abends. Woher soll ich wissen, dass Sie mich nicht abends anrufen werden? Es gibt keinen Anrufbeantworter. Woher soll ich wissen, dass Sie mich nicht eines Abends anrufen und dann nie wieder? Wenn ich Ihren Anruf verpasse, dann war alles umsonst und dann ...«
    »Gehen Sie weg«, sagte er. »Es reicht. Lassen Sie mich jetzt bitte in Ruhe.« Mit diesen Worten ließ er mich im Schatten unter dem Ginkgobaum stehen und hinkte über den Campus
    davon.
    »Professor Shi!«, rief ich ihm hinterher. »Bitte. Ich wollte nicht

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