Tokio
wieder aus. Wir gehen nirgendwohin - schon gar nicht nach Poyang. Poyang hat meine Mutter umgebracht, und diesmal wirst du mir, deinem Herrn und Gemahl, gehorchen. Du wirst auf Chiang Kai-schek vertrauen, den erhabenen Führer, einen Mann, der weit mächtiger, weit stärker ist als all dein Aberglaube.«
Nanking, 16. November 1937
Wie ich diese Worte jetzt bedaure. Jetzt, da ich allein in meinem Arbeitszimmer sitze, hinter verriegelter Tür, mein Ohr an das Radio gepresst. Ich fürchte mich davor, Shujin die Nachrichten hören zu lassen, die das Radio übermittelt, weil sie vor Schadenfreude triumphieren würde. Ich werde den schrecklichen Bericht in kleinen Schriftzeichen niederschreiben, um es erträglicher zu machen: Chiang Kai-schek und die Kuomintang-Regierung sind aus der Stadt geflohen, die sich nun in den Händen von General Tang Shengzhi befindet
Jetzt, wo ich diesen abscheulichen Satz zu Papier gebracht habe, was bleibt mir da anderes übrig, als ihn anzustarren. Was soll ich tun? Ich kann an nichts anderes mehr denken. General Chiang ist geflohen? General Tang ist an seine Stelle getreten?
Können wir ihm vertrauen? Soll ich auf Knien zu Shujin kriechen und ihr gestehen, dass ich Unrecht gehabt hatte? Soll ich zulassen, dass sie mich in meiner Entschlossenheit wanken sieht? Nein, das kann ich nicht. Ich kann nicht kapitulieren. Ich bin in meinem eigenen grausamen Netz gefangen, doch ich muss eisern bleiben, egal, wie unwohl ich mich dabei fühle. Ich werde das Haus verbarrikadieren, und wir werden auf die Ankunft der kaiserlichen Truppen warten. Selbst wenn das Undenkbare geschieht und unsere Streitkräfte eine Niederlage erleiden, werden uns die Japaner gut behandeln, dessen bin ich mir sicher. Ich habe als Student Kyoto besucht und beherrsche die Sprache fließend. Sie benehmen sich über alle Maßen rücksichtsvoll und kultiviert - man erinnere sich nur an ihr Verhalten im Japanisch-Russischen Krieg, wo sich zeigte, dass sie ein zivilisiertes Volk sind. Shujin wird überrascht sein, wenn sie feststellt, dass es sogar Dinge gibt, die wir von ihnen lernen können. Wir werden ein Schild in Japanisch bereithalten, auf dem »Willkommen« steht, und uns wird nichts geschehen. Ich habe heute zwei Familien in einer Querstraße der Hanzhong-Straße ein solches Schild vorbereiten sehen. Doch während ich schreibe, während sich die Nacht über
Nanking herabsenkt, während die Stadt in tiefe Stille versinkt, die nur gelegentlich vom entfernten Kettenrasseln eines Nationalistenpanzers auf der Zhongshan-Straße unterbrochen wird, ist das Blut in meinen Adern wie zu Fis gefroren. Ich muss all meine Willenskraft aufbieten, um
nicht nach unten zu gehen und Shujin meine Ängste einzugestehen. Sie hat sich mir entfremdet, seit ich mich geweigert habe, nach Poyang zurückzukehren. Täglich wiederhole ich meine Gründe, nicht zu flüchten, und tue dabei so, als würde ich nicht genau wissen, wie hohl sie klingen: Auf dem Lande gibt es keine medizinische Versorgung, keine wissenschaftlich fundierten Methoden für die Geburt unseres Kindes. Ich habe versucht, ein Schreckensszenario aufzuzeigen, das uns erwarten würde, wenn wir unglücklicherweise auf dem Land stranden sollten und nur irgendeine alte Bauersfrau zur Hand wäre, um Shujin bei der Niederkunft zu helfen. Doch jedes Mal, wenn ich damit anfange, keift sie mich an: »Eine alte Bauersfrau? Eine alte Bauersfrau? Sie weiß besser Bescheid als deine ausländischen Ärzte! Christen!«
Wahrscheinlich habe ich sie mürbe gemacht, denn sie ist verstummt. Sie sitzt den größten Teil des Tages teilnahmslos in ihrem Sessel, die Hände über dem Bauch gefaltet. Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich an diese Hände denke, so klein, so weiß. Den ganzen Tag über konnte ich meinen Blick nicht von ihnen abwenden. Sie müssen unbewusst auf ihren Bauch gewandert sein, denn sie würde ihn niemals absichtlich streicheln, weil sie davon überzeugt ist, dass sie damit ein verwöhntes Balg heranziehen würde, genau die Worte, die meine Mutter mir gegenüber benutzt hat: »Die Götter stehen mir bei, ich muss zu oft meinen Bauch gerieben haben, dass du so ein hochmütiges, aufsässiges Kind geworden bist.«
Wenn ich an die Möglichkeit denke, dass unser Kind aufsässig, arrogant oder selbstsüchtig sein oder irgendeine andere unliebsame Eigenschaft besitzen könnte, treten mir Tränen in die Augen. Stolz und störrisch oder verwöhnt und verzogen - all diese Dinge
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