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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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hängen von einer Sache ab: dass unser Kind überhaupt geboren wird. Es hängt alles davon ab, dass Shujin den unausweichlichen Angriff auf Nanking überlebt.
    15
    Vielleicht ist das Schlimmste, was einem passieren kann, dies, jemanden zu verlieren und nicht zu wissen, wo man nach ihm suchen soll. Die Japaner glauben, dass in der O-Bon -Nacht die Toten zu ihren Hinterbliebenen zurückkehren. Sie kommen aus dem Äther herabgesaust, aus ihrem ewigen Schlummer gerissen vom Rufen ihrer Nachkommen. Ich hatte mir die OSon-Nacht immer schrecklich chaotisch vorgestellt, mit Geistern, die kreuz und quer durch die Luft flogen und Leute umrempelten, weil sie sich so schnell bewegten. Jetzt, da ich mich in Japan befand, fragte ich mich, was mit jenen geschah, die nicht wussten, wo ihre Toten ruhten. Was passierte, wenn sie in einem anderen Land gestorben waren? Konnten Geister Kontinente überqueren? Wenn nicht, wie gelangten sie dann zurück zu ihren Familien?
    Ich dachte über Geister nach, während ich an jenem Abend, endlos Zigaretten rauchend, in der schummrigen Bar saß und herauszufinden versuchte, wie ich Shi Chongming überzeugen konnte, mit mir zu reden, als Junzo Fuyuki und seine Männer zum zweiten Mal im Klub auftauchten.
    Strawberry forderte mich auf, ihnen Gesellschaft zu leisten. Sie saßen an ihrem üblichen Tisch - alle, bis - auf die Krankenschwester, die sich bereits in die Nische zurückgezogen hatte, wo das Licht ihren Schatten verzerrt an die Wand warf. Fuyuki schien guter Laune zu sein. Auf dem Platz neben ihm saß ein neuer Gast, ein Riese von einem Mann in einem silbernen Anzug und mit einem roten Gesicht und Haaren, die so kurz geschoren waren, dass man die Speckrollen an seinem Hinterkopf sehen konnte. Er war bereits betrunken, erzählte Witze und knallte bei jeder Pointe die Beine seines Stuhls auf den Boden, verzog lustig die Augenbrauen und murmelte etwas, das die Männer in schallendes Gelächter ausbrechen ließ. Er sprach Japanisch mit einem Osaka-Akzent, so wie es in meiner Vorstellung alle Yakuza taten, doch er gehörte nicht zur Bande. Er war ein Freund von Fuyuki, und die japanischen Hostessen sagten, er wäre berühmt - sie kicherten hinter sittsam vorgehaltener Hand und seufzten schmachtend.
    »Mein Name ist Baisho«, erklärte er den Russinnen in gestelztem Englisch und fuchtelte dabei mit seinen dicken, Gold beringten Fingern herum, »Meine Freunde nennen mich Bai, weil ich doppelt so viel Geld wie sie habe und doppelt ...«, er hob vielsagend die Augenbrauen, »... doppelt so viel Mann!«
    Ich saß schweigend da und malte in Gedanken das Kanji für Bai. Bai-san benutzte es im Sinn von »doppelt«, doch es hatte auch andere Bedeutungen; es konnte »Pflaume« heißen, wenn es mit einem Baum und dem Symbol für »jedes« kombiniert
    war, oder Muschel oder Ackerbau. Doch woran Bai-san mich wirklich erinnerte, war das, wonach sein Name auf Englisch klang: Bison.
    »Mein Beruf Sänger. Ich Nummer eins japanischer Sänger«, verkündete er allen am Tisch. »Und mein neuer Freund«, fuhr er fort und deutete mit seiner Zigarre auf das dürre Gerippe im Rollstuhl, »Mr. Fuyuki. Er Nummer-eins-Mann in Tokio!« Er ballte und spreizte seine Hand, um seine Muskeln spielen zu lassen. »Der Älteste in Tokio, aber gesund und stark wie dreißig Jahre. Stark, sehr stark.« Er wandte sich zu ihm um und sagte ganz laut auf Japanisch, so als ob der alte Mann taub wäre: »Fuyuki-san, Sie sind sehr stark. Sie sind der Größte, der älteste Mann, den ich kenne.«
    Fuyuki nickte. »Das bin ich. Das bin ich«, krächzte er. »Ich bin heute stärker, als ich es mit zwanzig war.«
    Bison hob sein Glas. »Auf den stärksten Mann von Tokio.«

»Auf den stärksten Mann von Tokio!«, stimmten alle mit ein.
    Manchmal ist es ein Fehler zu prahlen - man weiß nie, wann sich die Dinge ändern und man sich zum Narren macht. Keine halbe Stunde, nachdem er mit seiner Gesundheit geprotzt hatte, fing Fuyuki an, kränklich auszusehen. Niemand machte viel Aufhebens darum, aber ich konnte es sehen - er atmete schwer, murmelte etwas und tastete hektisch nach dem Arm des Mannes mit dem Pferdeschwanz, der sich vorbeugte und mit ausdruckslosem Blick aufmerksam lauschte. Schließlich nickte er, stand auf, strich seinen Pullover glatt und ging diskret zu der Nische, wo er kurz zögerte, bevor er sie betrat.
    Einer der anderen Männer rutschte ein wenig näher an Fuyuki heran und behielt ihn diskret im Auge. Ansonsten taten alle am

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