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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Mir sank der Mut. Die Leute flüchteten. Die Stadt kam zum Stillstand. Ich schäme mich, es zuzugeben, doch selbst einige der Dozenten an der Universität haben heute davon gesprochen, weiter im Inneren des Landes Zuflucht zu suchen. Man muss sich das nur mal vorstellen! Ein solcher Mangel an Vertrauen unserem Präsidenten gegenüber. Was wird er sich nur denken, wenn er sieht, dass wir aus seiner geliebten Stadt flüchten.
    Shujin scheint beinahe schadenfroh darüber zu sein, dass Shanghai eingenommen wurde. Es beweist, was sie immer von den Nationalisten behauptet hat. Auch sie ist von dem Taumel ergriffen worden, aus der Hauptstadt zu fliehen. Als ich nach Hause kam, überraschte ich sie dabei, wie sie unser Hab und Gut in eine Truhe packte. »Da bist du ja«, sagte sie. »Ich habe schon auf dich gewartet. Hol jetzt gleich den Karren vom Hof herein.«
    »Den Karren?«
    »Ja! Wir gehen fort. Wir gehen zurück nach Poyang.« Sie
    faltete ein weißes Windeltuch aus dem Cui-sneng-Bündel ihrer Großmutter zusammen und legte es in die Truhe. Ich bemerkte, dass sie den größten Platz für eine Schildpatt-Geldschatulle meiner Mutter reserviert hatte - eine Schatulle, die, wie ich erinnerte, mehrere in Blut geschriebene und in Tücher gewickelte I-Ging- Weissagungen enthielt. Meine Mutter hatte fest an die Kraft jener Worte geglaubt, doch sie hatten sie nicht retten können. »Oh, schau nicht so ängstlich drein«, sagte Shujin. »Nach meinem Almanach ist heute ein günstiger Tag zum Reisen.«
    »Nun hör mir einmal zu, es besteht kein Grund, vorschnell ...«, setzte ich an.
    »Kein Grund?« Sie sah mich nachdenklich an. »Ich denke
    schon. Komm mit.« Sie winkte mich ans Fenster, öffnete es und zeigte auf den Purpurberg, auf dem Sun Yat-sens Mausoleum steht. »Da«, sagte sie. Es war schon spät, und hinter dem Berg lugte bereits der orangefarbene Mond hervor.
    »Zijin.«
    »Was ist damit?«
    »Chongming, bitte, hör auf mich, mein Gemahl.« Sie senkte die Stimme, und ihr Tonfall wurde ernst. »Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte, dass Zijin brannte ...«
    »Shujin«, schnitt ich ihr das Wort ab, »das ist doch alles Unsinn ...«
    »Nein«, erwiderte sie aufgebracht. »Es ist kein Unsinn. Es ist Wirklichkeit. In meinem Traum brannte der Purpurberg. Und als ich es sah, wusste ich Bescheid. Ich wusste sofort, dass ein großes Unheil über Nanking hereinbrechen wird ...«
    »Shujin, bitte ...«
    »Ein Unglück, wie wir es noch nie erlebt haben, nicht einmal während des Taiping-Aufstands.«
    »Meine Güte! Sag mir, bist du so weise wie die blinden Männer bei den Festen, die prahlen, dass sie ihre Augenlider eingerieben hätten mit - mit - ich weiß auch nicht, der Flüssigkeit aus dem Auge eines Hundes oder solchen Unsinn?
    Ein Wahrsager? Dieser Unfug muss ein Ende haben. Niemand kann die Zukunft voraussagen.«
    Aber sie ließ sich nicht beirren, stand stocksteif neben mir, ihre Augen starr auf den Purpurberg gerichtet. »Doch, man kann«, flüsterte sie. »Man kann die Zukunft vorhersagen. Die Zukunft ist ein offenes Fenster.« Sie legte ihre Hände sacht an die Fensterläden. »So wie dieses hier. Es ist leicht vorauszuschauen, denn die Zukunft ist die Vergangenheit. Alles im Leben ist ein großer Kreislauf, und ich habe genau gesehen, was passieren wird.« Sie drehte sich um und starrte mich mit ihren gelben Augen an, und einen Moment lang schien sie geradewegs in mein Herz zu schauen. »Wenn wir in Nanking bleiben, werden wir sterben. Und du weißt es auch. Ich erkenne es in deinen Augen - du weißt es nur zu gut. Du weißt, dass dein glorreicher Präsident zu schwach ist, um uns zu retten. Nanking hat nicht die geringste Chance.«
    »Ich höre mir das nicht länger an«, erklärte ich nachdrücklich. »Ich dulde nicht, dass du so über den Generalissimus sprichst. Ich verbiete es. Ich verbiete es strikt. Chiang Kaischek wird diese Stadt retten.«
    »Dieser Schoßhund der Ausländer.« Sie schnaubte verächtlich. »Erst müssen ihn seine eigenen Generäle zum Kämpfen zwingen, und dann kann er nicht einmal die Japaner besiegen - die Armee, die ihn ausgebildet hat!«
    »Das reicht!« Ich bebte vor Zorn. »Ich habe genug gehört. Chiang Kai-schek wir Nanking verteidigen, und wir, ja, du und ich, wir werden hier sein und Zeuge seines Sieges werden. «
    Ich fasste sie am Handgelenk und führte sie zurück zu der Truhe. »Ich bin dein Gemahl, und du hast dich auf mein Urteil zu verlassen. Pack das jetzt

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