Tokio
saß
stocksteif da und starrte finster auf die Stelle in Fuyukis Jackett, wo das Glas steckte, nur um im nächsten Moment erneut zum Furcht einflößenden Schatten der
Krankenschwester zu blicken. Sein Adamsapfel bewegte sich krampfhaft, so als müsste er sich gleich übergeben.
16
9. Dezember 1937 (nach Shujins
Kalender der siebte Tag des elften Monats)
In der ganzen Stadt herrscht Panik. Letzte Woche haben die Japaner Suzhou, das Venedig Chinas, eingenommen und sind dann nördlich des Taihu-Sees weitermarschiert. Sie sind dem geschwungenen Lauf des Jangtse gefolgt und aus dem Norden vorgestoßen. Sie scheinen schnell vorangekommen zu sein, denn vor vier Tagen ist Zhejiang gefallen. General Tang hat gelobt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um uns zu verteidigen, doch nichts an ihm flößt den Bürgern Vertrauen ein, und jetzt verlässt praktisch jeder, der es sich leisten kann, die Stadt. »Es wird wie eine Wiederholung der TaipingInvasion sein«, tuscheln sie. Die Lastwagen sind überladen, und die Armen und Verzweifelten klammern sich an sie, während die Fahrzeuge schwankend in der Ferne verschwinden. Ich bete, dass die kleinen Punkte, die man von Zeit zu Zeit von den Lastern fallen sieht, während sie auf die Eisenbahnfähre in Xiaguan zurumpeln, Habseligkeiten sind: Körbe oder Hühner, deren Stricke sich gelöst haben. Ich bete, dass es nicht die Kinder der Armen sind.
Das Rote Kreuz hat heute eine Warnung ausgesprochen und
eine Flüchtlingszone auf dem Gelände der Universität eingerichtet, nicht weit von unserem Haus, knapp südlich der Bahngleise. Sie drängen alle Zivilisten, sich dort zu ihrer eigenen Sicherheit zu versammeln. Die meisten der Unterrichtsräume und Büros sind in Schlafsäle umgewandelt worden. Ich habe mich gefragt, ob ich die Lösung für meine Ängste gefunden habe: In der Sicherheitszone würde es kein Gerede darüber geben, Nanking zu verlassen, kein Misstrauen gegenüber dem Kuomintang. Und ich wäre im Stande, Shujin zu beschützen.
Aus dieser Überlegung heraus bin ich heute heimlich zu der Zone gegangen und sah dort Menschenmassen, die sich mit ihren Schlafmatten und Besitztümern vor dem Eingang drängten, während die Sirenen des Fliegeralarms heulten. Einige der Flüchtlinge hatten Kleinvieh dabei, Hühner, Enten, sogar einen Büffel, und ich bemerkte eine Familie, die sich mit den Beamten darüber stritt, ob sie ein Schwein mitbringen durften. Letztendlich wurden sie überredet, das Tier laufen zu lassen, und es trottete orientierüngslos durch die Menge. Ich blieb eine Weile stehen und beobachtete das Schwein, bis ein anderer Flüchtling weiter hinten es erspähte, es zu seinem Eigentum erklärte und es abermals durch die Menge zum Tor führte, wo der Streit mit den Beamten von neuem begann.
Ich starrte lange auf die Massen der Armen und Vertriebenen; einige husteten, andere hockten sich einfach in den Rinnstein, um sich zu erleichtern, wie es in den ländlichen Gegenden wohl immer noch üblich war. Schließlich wand te ich mich ab, schlug meinen Kragen hoch und ging mit gesenktem Haupt nach Hause. Ich kann Shujin nicht dorthin bringen. Es wäre keinen Deut besser, als sie über den Jangtse zurück nach Poyang zu schleifen.
Wir gehören zu den letzten Anwohnern, die noch in der Gasse verblieben sind - wir und eine Hand voll Arbeiter, die in der Brokatweberei an der Guofu-Straße beschäftigt Hind. Sie leben in dem Wohnheim am Ende der Gasse und Nind sehr arm
- ich bezweifle, dass sie Familie oder Zufluchtsorte haben. Manchmal stelle ich mich heimlich auf die Straße, betrachte unsere Gasse und versuche, sie mit den Augen einer einmarschierenden Armee zu sehen. Ich bin überzeugt, dass wir
hier sicher sind - die Gasse führtnirgendwohin, und es kommen nur wenige Leute an unserem Haus vorbei. Wenn die Fensterläden verriegelt sind, kann man nicht einmal erahnen, dass hier jemand wohnt. In dem winzigen Hof vor dem Haus, wo Shujin in flachen Pfannen Gemüse trocknet, habe ich mehrere Jin Feuerholz, wachsversiegelte Gläser mit Erdnussöl, einige Säcke Hirse und einen Vorrat an Dörrfleisch gelagert. Da ist sogar ein Korb mit getrockneten Wollhandkrabben, eine Delikatesse! Ich bete, dass ich hinlänglich vorbereitet bin. Ich habe sogar mehrere altmodische Wassertonnen gelagert, weil die städtische Versorgung unzuverlässig und der uralte Brunnen auf unserem Grundstück unbrauchbar ist. Während ich hier am Fenster sitze und dies schreibe, kann ich durch die
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