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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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darauf wartete, dass die Fensterläden aufgerissen und aufgeregte Stimmen der seinen antworten würden, wie dies sonst üblich gewesen wäre. Gewöhnlich leben wir unser Leben öffentlich auf der Straße, doch bei dieser Gelegenheit war das Einzige, was man im Viertel hören konnte, das verstohlene Verbarrikadieren von Türen und Fensterläden. Es dauerte nicht lange, bis der Knabe seine Arme sinken ließ und sich trollte.
    Ich drehte mich um. Shujin saß stocksteif da, ihre Hände sittsam gefaltet, ihr schmales Gesicht so reglos, als wäre es aus Marmor. Sie trug einen Haus- Qipao und eine Hose aus bronzefarbenem Stoff, der ihre Haut beinahe blutleer erscheinen ließ. Ich musterte sie eine Weile, während ich mit dem Rücken zum offenen Fensterladen und der stillen Straße jenseits davon stand. In diesen Tagen war das Licht in der Stadt sehr seltsam, grellweiß und klar. Es flutete in das Zimmer und beleuchtete Shujins Haut in allen Einzelheiten - so als würde ich ganz nah bei ihr sitzen. Ihr Gesicht, ihr Hals und ihre Hände waren von winzigen Pusteln übersät, wie Gänsehaut, und ihre Augenlider wirkten fast durchscheinend, so als könnte ich die geheimen Ängste sehen, die sich darunter verbargen. In diesem Moment, während ich sie anstarrte, fühlte ich etwas Elementares in mir aufsteigen, etwas, das nach Safran und dem satten Rauch der Kochtöpfe in Poyang schmeckte, etwas, das mich würgen ließ und Tränen in meine Augen trieb. Ich stand hilflos da, scharrte nervös mit den Füßen, während ich über die Wortwahl nachgrübelte: Shujin, ich habe Unrecht, und du hast Recht. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich fürchte. Lass uns die Stadt verlassen. Schnell, geh und mach uns Guoba, dann lass uns packen und fortgehen. Wir können um Mitternacht schon am Hafen von Meitan sein. Oder etwas würdevoller: Shujin, es gibt da eine kleine Änderung in unseren Plänen ...
    »Shujin«, begann ich. »Shujin, vielleicht ... sollten wir ...«
    »Ja?« Sie sah mich hoffnungsvoll an. »Vielleicht sollten wir ...?«
    Ich wollte gerade antworten, als hinter mir ein irres Kreischen erscholl und etwas durch das Fenster hereingeschossen kam, gegen meinen Hinterkopf prallte und mich nach vorn taumeln ließ. Augenblicklich hallte das Zimmer von einem schrecklichen Krach wider. Ich schrie auf, während ich dort auf dem Boden lag und mir schützend die Hände über den Kopf hielt. In dem Durcheinander brach eine Schüssel entzwei, Wasser ergoss sich über den Boden, und Shujin sprang vor Schreck auf und kippte dabei ihren Stuhl um. Über uns sauste etwas Großes, Schemenhaftes panisch von einer Wand zur anderen. Vorsichtig, meine Hände noch immer schützend vor meinem Gesicht, blickte ich auf.
    Es war ein Vogel, ein riesiger, schwerfälliger Vogel, der verzweifelt umherflatterte, an die Wände prallte, auf dem Boden aufschlug. Überall flogen Federn umher. Shujin starrte den Vogel erstaunt an, während er krächzte und flatterte und Dinge.umwarf. Endlich gab er erschöpft auf und plumpste zu Boden, wo er eine Weile mutlos umherhüpfte und gegen die Wände stieß.
    Shujin und ich traten einen Schritt vor und beäugten den Vogel ungläubig. Es war ein Goldfasan. Der Vogel, der, wie manche behaupten, China repräsentiert. Unglaublich. Bis heute kannte ich Goldfasane nur von Gemälden, und ich hätte nicht überraschter sein können, wenn der Feng huang höchstselbst zum Fenster hereingeflogen wäre. Die orangefarbenen Federn waren so leuchtend, als hätte jemand mitten in unserem Haus ein Feuer entzündet. Jedes Mal, wenn ich einen Schritt nach vorn machte, hüpfte er davon, versuchte zu entkommen, stieß
    mit den Möbeln zusammen. Ich konnte nicht begreifen, warum er hier hereingeflogen war. Erst als der Vogel einen hilflosen Satz in die Luft machte und ganz dicht an mir vorbeiflatterte, sah ich seine Augen und verstand.
    »Mach Platz«, wies ich Shujin an. Ich nahm meinen brokatenen Changpao vom Stuhl und warf ihn wie ein Netz über den Vogel. Der Goldfasan hüpfte herum und schlug panisch mit seinen Flügeln, erhob sich gut zwei, drei Handbreit in die Luft, so dass es einen Moment lang schien, als würde sich das Gewand aus eigener Kraft durch das Zimmer bewegen - ein
    bunter Flickengeist, der über den Fußboden schwebte. Dann bückte ich mich, packte den Vogel blitzschnell mit beiden Händen und wickelte ihn vorsichtig aus dem Gewand, enthüllte zuerst seinen kleinen Kopf, seine toten Augen, dann seine Flügel und zeigte

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