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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Gelächter.
    »Also, werden Sie es nun tun oder nicht?«, fragte er. »Werden Sie mir helfen?«
    Als mein Grinsen endlich verschwunden war, hob ich den
    Kopf und sah ihn an.
    Er wirkte jetzt noch kleiner und zerbrechlicher in seiner fadenscheinigen Jacke, die er eng um seine Schultern gezogen hatte. Sein Blick war starr, und auf seinem Nasenrücken glänzten kleine Schweißtröpfchen. »Werden Sie es tun?«
    Welch wundersame Wendung: einen Handel mit einem betagten Professor einzugehen, der, soweit ich es beurteilen konnte, so verrückt war, wie alle Welt es von mir behauptete. Es ist doch immer wieder erstaunlich, zu welchen Dingen Leute bereit sind, nur um ihren Seelenfrieden zu finden. Wir saßen eine Ewigkeit da, während das Summen der Insekten in meinem Kopf widerhallte und über uns die Flugzeuge auf dem Weg nach Narita Kondensstreifen über den blauen Himmel zogen. Dann nickte ich schließlich. »Ja«, sagte ich leise. »Ja. Ich werde es tun.«
    Es gab eine Pforte auf die Straße, eingelassen in das Erdgeschoss des Hauses, so dass eine Art Tunnel unter dem oberen Stockwerk entstanden war. Als Shi Chongming am frühen Nachmittag ging, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass sich der rostige Schlüssel im Schloss noch immer drehen und die alte Pforte mit einiger Mühe öffnen ließ. So konnte Shi Chongming geradewegs auf die Straße hinaustreten. »In China«, erklärte er mir, während er in der Pforte stand, »in China sehen wir die Zeit nicht so, wie Sie es im Westen tun. Wir glauben, dass unsere Zukunft ... dass unsere Zukunft sich aus unserer Vergangenheit ablesen lässt.« Sein Blick wanderte abermals zum Garten, so als ob jemand seinen Namen geflüstert hätte.
    Ich drehte mich um und starrte auf die Steinlaterne. »Was sehen Sie, Shi Chongming?«, fragte ich. »Was sehen Sie?«
    Er sprach mit ruhiger, leiser Stimme, als er antwortete. »Ich sehe ... einen Garten. Ich sehe einen Garten. Und ich sehe seine Zukunft, die darauf wartet, enthüllt zu werden.«
    Nachdem er gegangen war, verriegelte ich die Pforte hinter ihm und stand einen Moment lang im Schatten des Tunnels, wo der Putz von der Unterseite des Stockwerks darüber abblätterte und ein von Spinnweben überzogenes graues Lattenwerk entblößte. Ich betrachtete den Garten. Vor meinem geistigen Auge tauchte ein Bild von den Eltern des Vermieters hier in diesem Garten auf - das Klappern ihrer Holzsandalen auf den Tobi-ishi- Trittsteinen, ein scharlachroter Sonnenschirm, ein beinerner Kamm in der Form eines Schmetterlings, heruntergefallen und vergessen und mit einem achtlosen Tritt unter die Laubdecke befördert, wo er verborgen liegen blieb und sich über die Jahre verwandelte und langsam zu Stein wurde. Der Schintoismus sieht Geister in Bäumen, Pflanzen, Vögeln und Insekten. In Tokio gab es nur wenige Grünanlagen, und die einzigen Blumen waren die Ketten aus Plastikkirschblüten, die an Festtagen die Fassaden der Läden schmückten. Man hörte nie einen Vogel zwitschern. Vielleicht versammelten sich alle Geister der Stadt an vergessenen Orten wie diesem, dachte ich.
    In jenem Moment, während ich dort im Schatten stand, mit dem Wissen, dass Shi Chongming den Film besaß, der dem,
    was mir passiert war, dem, was ich vor so vielen Jahren in einem kleinen orangefarbenen Buch gelesen zu haben glaubte, einen Sinn geben würde, war mir klar, dass die Antwort, nach der ich suchte, zum Greifen nah war.

    18
    Nanking, 12. Dezember 1937 (der
    zehnte Tag des elften Monats), später
    Nachmittag
    Ich schreibe dies im Schein einer einzelnen Kerze. Wir können nicht wagen, Kerosinlampen anzuzünden oder elektrisches Licht anzuschalten. Wir müssen unsere Häuser so aussehen lassen, als ob sie unbewohnt wären.
    Gestern haben wir den ganzen Tag über Explosionen aus Richtung der Blumenregenterrasse gehört. Ich habe Shujin gesagt, dass es unsere Soldaten sein müssen, die außerhalb der Stadtmauer Schützengräben sprengten oder Brücken über den Kanal zerstörten, doch auf der Straße hörte ich Leute flüstern:
    »Es sind die Japaner. Die Japaner.« Dann, heute Nachmittag, nach einer langen Periode der Stille, erschütterte eine gigantische Explosion die Stadt und ließ Shujin und mich in dem, was wir gerade taten, innehalten und einander mit kreidebleichen Gesichtern anstarren.
    »Das Tor!«, rief ein Knabe auf der Straße. »Das ZhonghuaTor! Die Japaner!«
    Ich ging zum Fenster und beobachtete ihn, während er mit ausgebreiteten Armen dastand und

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