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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Rücklichtern nach, bis sie gänzlich verschwunden waren. Über mir zogen Wolken hin weg, die den Mond verdeckten und das kleine Fleckchen England, auf dem ich stand, stockdunkel machten.
    Und so musste ich den Ärzten zustimmen - das unmittelbare Ergebnis von Sex war nicht das gewesen, was ich erwartet hatte. Und so wie mein Körper jetzt aussah, würde es wahrscheinlich auch in Zukunft nie eine Chance geben herauszufinden, ob es anders sein könnte. Ich wagte nicht, das den Ärzten zu sagen, ich wagte nicht auszusprechen, wie sehr ich mir wünschte, einen Freund zu haben, jemanden, mit dem ich ins Bett gehen konnte. Ich wusste, wenn ich das verriet, würden sie mir nur erklären, dass meine schändlichen Triebe die Wurzeln eines viel größeren Übels wären, dass ich einen lebendigen Wolf in mir trüge. Ich hörte mir die Vorträge über Würde und Selbstachtung an, all das komplizierte Gerede von Einverständnis und Selbstbeherrschung, und es dauerte nicht lange, bis ich zu dem Schluss kam, dass Sex gefährlich und unberechenbar war, wie Shi Chongmings Zauberkranich der Vergangenheit, wie Phosphor an einem bewölkten Tag. Ich entschied, besser so zu tun, als würde Sex überhaupt nicht existieren.
    Letztendlich war es das Mädchen im Nachbarbett, das mir
    eine mögliche Lösung zeigte. Sie onanierte jede Nacht.
    »Wichsen«, nannte sie es. »Ich komm hier bis ans Ende meiner Tage nicht mehr raus. Ist mir egal. Solange ich meine Kippen habe und wichsen kann, geht's mir prächtig.« Sie tat es unter der Bettdecke, sobald das Licht ausgeschaltet worden war. Sie schämte sich nicht. Ich lag im Nachbarbett, die Decke bis ans Kinn hochgezogen, und starrte staunend auf ihre sich hebende und senkende Bettdecke. Bei ihr wirkte es immer wie ein großer Spaß, als ob es gar nichts Schlimmes wäre.
    Als ich aus der Klinik heraus war und nicht mehr rund um die Uhr überwacht wurde, begann ich meine eigenen schuldbewussten Experimente. Ich fand schnell heraus, wie ich mich selbst zum Höhepunkt bringen konnte, und obgleich ich nie breitbeinig über einem Spiegel gehockt hatte (das onanierende Mädchen versicherte mir, dass es Leute gab, die das taten), war ich überzeugt, dass kein anderes Mädchen auf der Welt den dunklen Bereich zwischen ihren Beinen so gründlich ausgekundschaftet hatte wie ich. Gelegentlich machte ich mir Sorgen wegen des Wolfs. Ich hatte Angst, dass ich eines Tages dort unten hingreifen würde und meine Finger eine feuchte Schnauze berührten.
    Jetzt, in dem Badezimmer in Takadanobaba, betrachtete ich nachdenklich mein Spiegelbild, ein dürres Gerippe auf einem kleinen Gummihocker. Ein Mädchen, das höchstwahrscheinlich fünf Jungen im Fond eines Ford Transit als Liebe ihres Lebens bezeichnend ins Grab gehen würde. Ich füllte die kleine Plastikschüssel, vermischte das heiße mit dem kalten Wasser und goss es über meinen Körper, ließ es in die Kuhlen meines Schlüsselbeins laufen und über die Narben auf meinem Bauch rinnen. Ich stellte die Schüssel ab und legte verträumt meine Hände auf den Bauch, hakte meine Daumen
    ineinander und bildete mit meinen Fingern einen Rahmen, durch den ich beobachtete, wie sich das Wasser in den vernarbten Furchen sammelte und silbern das Licht reflektierte, so dass es wie Quecksilber schillerte.
    Niemand, nicht einmal die Ärzte und der Mann von der Polizei, der kam, um Fotos von ihnen zu machen, hatte je meine Narben gesehen. In meinen Tagträumen stellte ich mir vor, dass es jemanden gäbe, der Verständnis hätte - jemanden, der sie ansehen und nicht zurückschrecken, der die Geschichte hören und, statt seinen Blick abzuwenden, etwas Freundliches und Trauriges und Mitfühlendes sagen würde. Aber natürlich wusste ich, dass das nie passieren würde. Nie. Wenn ich mir vorstellte, meine Kleider auszuziehen, wenn ich mir ausmalte, wie ich jemandem die Wahrheit offenbarte, dann überkam mich augenblicklich jenes Übelkeit erregende Rauschen im Innenohr, und ich zog das, was immer ich gerade trug, hektisch fester über meinen Bauch, so als könnte ich verbergen, was sich dort befand.
    Es gibt Dinge, mit denen man sich eben abfinden muss. Manchmal blieb einem nichts anderes übrig, als tief durchzuatmen und zu sagen: »Das ist halt etwas, das ich nicht von meinem Leben erwarten kann.« Und wenn man es oft genug
    sagt, geschieht etwas Überraschendes: Nach einer Weile kommt es einem gar nicht mehr so entsetzlich vor.
    Während ich im Badezimmer war und über Fuyuki

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