Tokio
ihn Shujin.
»Er ist blind«, erklärte ich.
»Blind?«
»Ja. Vielleicht haben die Explosionen am Zhonghua ...«
»Nein!« Shujin schlug die Hände vors Gesicht. »Nein. Das ist das größte Unglück, das uns widerfahren kann! Ein Goldfasan! Der Vogel Chinas. Und geblendet von der Hand der Japaner.« Wie von Sinnen grub sie die Finger in ihre Kopfhaut und blickte sich hektisch im Zimmer um, als könnte sich wie von Zauberhand ein Fluchtweg auftun. »Es hat sich bewahrheitet - jetzt wird es tatsächlich geschehen. Die Erde, unser Mutterboden. Die Japaner werden die Erde schänden - sie werden die Drachenlinien im Boden zerstören und ...«
»Sei still. Es gibt keine Drachenlinien ...«
»Sie werden die Drachenlinien zerstören, und dann wird es nichts als Dürre und Hungersnot in China geben. Alle Fasane werden geblendet werden, nicht nur dieser. Alle. Und auch alle Menschen. Wir werden in unseren Betten abgeschlachtet werden und ...«
»Shujin, bitte. Bitte, beruhige dich. Es ist doch nur ein Vogel.«
»Nein! Es ist nicht nur irgendein Vogel - es ist ein Goldfasan! Wir werden alle sterben.« Sie lief ziellos im Kreis herum und fuchtelte verzweifelt mit den Händen. »Der Prä-sident, dein glorreicher Präsident, dein erhabener Gebieter, ist wie ein Hund davongelaufen und hat sich in Chongqing verkrochen, und in Nanking sind nur noch die Armen übrig und die Kranken und ...«
»Das reicht!«
»Oh!«, rief sie aus und ließ die Hände sinken. Sie starrte mich mit einem Ausdruck tiefster Qual an. »Oh - du wirst schon sehen! Du wirst schon sehen! Ich habe Recht.« Und mit diesen Worten lief sie aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinauf.
Ich stand lange da. Das Blut pochte in meinen Schläfen,
während ich ihr nachblickte, verwundert darüber, wie sich schlagartig alles verändert hatte. Ich war bereit gewesen, ihr nachzugeben, war willens gewesen, aus der Stadt zu flüchten. Doch ihr Hohn hat mich dazu getrieben, eine Position zu verteidigen, von der ich nicht mehr überzeugt war.
Ich hätte vielleicht ewig dort gestanden und auf die leere Treppe gestarrt, hätte der Fasan nicht angefangen zu zappeln. Resigniert umklammerte ich seine Füße und schwang ihn in einer schnellen, kraftvollen Bewegung durch die Luft, ganz so wie meine Mutter es mir als Kind beigebracht hatte, ließ ihn neben mir kreiseln, als würde ich Wasser aus einem Tuch schlagen, einmal, zweimal, bis das Genick des Vogels gebrochen war und ich nur noch ein schlaffes Bündel Federn in den Händen hielt. Ich verriegelte den Fensterladen und trug den toten Vogel, dessen Flügel sich noch ein letztes Mal in einem Todeszucken hoben, in die Küche.
Ich betrete Shujins Küche nur selten, doch jetzt war es der einzige Ort, an dem ich sein wollte. Sie gab mir Geborgenheit. Als kleiner Junge hatte ich oft auf dem Küchenfußboden gesessen und zugeschaut, wie meine Mutter Hühner in kochendes Wasser legte, um die Federn aufzuweichen. Jetzt
füllte ich einen Topf mit Wasser, zündete das Feuer an und wartete, bis die ersten Blasen an die Oberfläche stiegen. Wie in Trance packte ich den Vogel an den Füßen und brühte ihn ab. Dann setzte ich mich an den Tisch und rupfte ihn, kratzte die Stoppelfedern von seiner Brust, während ich mir die Küche meiner Mutter vorstellte. Ich rief mir ihr Gesicht ins Gedächtnis, damals, bevor die Geschäfte meines Vaters zu florieren begannen und wir uns eine Amah leisten konnten; als sie noch den ganzen Tag in der Küche zubrachte, geduldig gebratene Enten in Salz einlegte, in Tücher hüllte und anschließend die Eingeweide des Vogels um einen Spieß wickelte, damit sie in der Speisekammer trocknen konnten. Chiang Kai-schek will, dass China nach vorn blickt, dachte ich trübsinnig. Doch ist es so einfach für eine Nation, sich ihre Geschichte aus dem Herzen zu reißen?
Als ich mit dem Rupfen fertig war, steckte ich sorgfältig den Kopf des Vogels unter seinen Flügel und band ihn mit einer Schnur zusammen, ganz wie meine Mutter es getan hatte, ganz wie Chinesinnen es seit Generationen tun. Seine schillernden Federn klebten noch an meinem Arm, als ich ihn in den Topf legte und beobachtete, wie sich auf der Oberfläche blutiger Schaum bildete.
Nanking, 13. Dezember, Nachmittag
Gestern Abend habe ich das Haus verbarrikadiert, habe alle Fenster und Türen mit Brettern vernagelt. (Shujin weigerte sich zu helfen, da ihrem Aberglauben nach das Einschlagen eines Nagels Missbildungen an unserem Kind hervorrufen
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