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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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würde.) Den ganzen Abend über hörten wir seltsame Geräusche aus dem Osten, und bevor wir zu Bett gingen, lehnte ich eine Eisenstange an die Geisterwand. Wer weiß, ob ich im Stande wäre, sie zu benutzen, wenn es hart auf hart käme. Heute Morgen wurden wir von einem entfernten Grollen geweckt, wie von Donner, und vor einer halben Stunde hat Shujin einen Topf mit Wasser gefüllt, um Nudeln fürs Mittagessen zu kochen. Als sie sich anschließend die Finger waschen wollte, bockte und bebte der Wasserhahn, und es kam nur ein dünner Strahl brauner Flüssigkeit heraus. Was hat das zu bedeuten?
    Heißt das, die Japaner haben ...
    Es geschieht, während ich hier sitze und dies schreibe! Die einzelne Glühbirne über mir ist gerade erloschen. Jetzt sitzen wir ... im Dunkeln, und ich kann kaum meine Worte auf dem Papier sehen. Von draußen hört man das Wimmern versagender Maschinen. Die Stadt kommt um uns herum zum
    Stillstand. Shujin durchforstet die Küche nach unseren Öllampen, und am Ende der Gasse höre ich jemanden hysterisch kreischen.
    Ich kann hier nicht länger sitzen bleiben. Ich werde mich aufmachen und herausfinden, was vor sich geht.
    19
    Als ich nach oben ging, wirkte das Haus im Vergleich zum Garten sehr dunkel und kühl. Ich nahm ein Bad in dem hallenden alten Badezimmer mit dem grünen Schimmel zwischen den Kacheln und den freiliegenden Rohren. Ich wusch mich mit großer Sorgfalt, starrte dabei gedankenverloren auf mein Spiegelbild, beobachtete, wie das herablaufende Wasser meine weiße Haut, die silbrigen Haare und Poren vergrößerte wie eine Lupe. Shi Chongming wollte, dass ich Fuyuki zum Reden brachte. Was er damit meinte, war, dass ich mit ihm flirten sollte, dass ich sexy sein musste.
    In der Klinik hatten sie mir ständig Vorträge über mein Sexualverhalten gehalten, daher war ich ziemlich rasch zu der Überzeugung gelangt, dass es nicht besonders klug wäre, ihnen zu erzählen, was ich wirklich für die Jungen in dem Lieferwagen empfand. Ich konnte mir vorstellen, was sie sagen würden: »Ah! Siehst du? Eine gänzlich unangemessene Reaktion!« Also behielt ich die Wahrheit für mich: dass ich, nachdem alle Jungen an der Reihe gewesen waren und wir uns wieder angezogen hatten und auf der A303 zurückfuhren, glücklicher war denn je. Ich sagte ihnen nicht, wie strahlend mir alles erschienen war, wie hell die funkelnden Sterne und der weiße Mittelstreifen, der unter dem Lieferwagen verschwand, geleuchtet hatten. Die vier Jungen im Fond schimpften lautstark über die mit zu viel Tempo genommenen Schlaglöcher, während ich summend vorn saß und der Musik aus einer leiernden Kassette namens XTC lauschte, die knisternd aus dem kaputten Lautsprecher des Lieferwagens scholl. Ich fühlte mich innerlich ganz leicht, so als ob die Jungen etwas Dunkles und Geheimes aus mir herausgespült hätten.
    Wir erreichten die Stelle auf der Landstraße, wo sie mich aufgesammelt hatten, und der Fahrer hielt am Straßenrand. Er ließ den Motor laufen, während er sich an mir vorbeibeugte und die Tür öffnete. Ich starrte ihn verständnislos an.
    »Also«, sagte er, »man sieht sich.«
    »Was?«
    »Man sieht sich.«
    »Soll ich hier aussteigen?«
    »Ja.«
    Ich schwieg eine Weile und betrachtete das Profil seines Gesichts. An seinem Hals, knapp über dem Kragen, entdeckte ich einige Pickel. »Nehmt ihr mich denn nicht in den Pub mit?
    Ihr habt gesagt, ihr geht in den Pub. Ich bin noch nie in einem Pub gewesen.«
    Er drückte seine Zigarette aus und warf sie aus dem Fenster.
    »Mach dich nicht lächerlich«, sagte er. »Du bist zu jung für den Pub. Die schmeißen uns raus, wenn wir dich dabeihaben.«
    Ich drehte mich um und blickte in den Fond des Lieferwagens. Vier Köpfe wandten sich von mir ab, gaben vor, aus dem Fenster zu starren. Der rotblonde Junge saß ganz hinten und begegnete meinem Blick mit ernster Miene, so als hätte er mich beim Stehlen ertappt. Ich sah den Fahrer an, doch der stierte angestrengt aus dem Fenster und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad. Ich wollte etwas sagen, doch dann überlegte ich es mir anders, schwang meine Beine aus dem Wagen und stieg aus.
    Der Fahrer langte herüber und schlug die Tür zu. Ich legte meine Hände auf den Fensterholm und setzte zu sprechen an, doch er hatte bereits die Handbremse gelöst. Das Getriebe kreischte, der Blinker ging an, und der Lieferwagen fuhr davon. Ich blieb am Straßenrand stehen und schaute den immer kleiner werdenden

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