Tokio
getaucht. Der Ahorn leuchtete in dunklem Ka-ramell, und der Ginkgo hatte einige seiner Blätter verloren. Das dichte Gestrüpp war kahl. Doch ich verstand, was er meinte. Der Garten besaß Schönheit. Vielleicht muss man sich anstrengen, um Schönheit zu erfahren, dachte ich. »Ich glaube, irgendwie ist er das.«
»Sie glauben, er ist irgendwie was? Irgendwie schön?«
Ich lenkte meinen Blick auf die Reihe von Hänsel-undGretel-Steinen, die an dem Geh-nicht-weiter-Stein vorbei in das Gebüsch führten. »Ja. Das habe ich gemeint. Er ist sehr schön.«
Er trommelte mit den Fingern auf die Stuhllehne und lächelte mich versonnen an. »Sie können die Schönheit dieses Landes, in dem Sie leben, erkennen? Endlich?«
»Ist es denn nicht das, was von einem erwartet wird?«, erwiderte ich. »Soll man sich denn nicht anpassen?«
Shi Chongming stieß einen leisen, amüsierten Laut aus. »Ah, ja. Ich sehe, dass Sie weise geworden sind.«
Ich zupfte meinen Mantel über den Beinen zurecht und bewegte mich dabei ganz vorsichtig, denn ich hatte mich nicht gewaschen, und die kleinste Bewegung setzte Jasons Geruch frei. Unter dem Mantel trug ich ein schwarzes Unterhemd, das ich vor Wochen in der Omotesando erstanden hatte. Es war eng anliegend und gerippt, mit winzigen, aufgestickten Seidenblüten um den Halsausschnitt, reichte ganz über meinen Bauch hinab und schmiegte sich eng an meine Hüften. Ich hatte noch immer nicht den Mut besessen, Jason meine Narben zu zeigen, und er hatte mich nicht gedrängt. Er war davon überzeugt, dass ich ihm eines Tages alles offenbaren würde. Ich müsse begreifen, sagte er, dass es für jeden auf der Welt einen Menschen gebe, der ihn ohne Einschränkung verstehe. Es war, als wären diese beiden Menschen zwei Teile in einem riesigen metaphysischen Puzzle.
»Warum haben Sie mich nicht angerufen?«, erkundigte sich Shi Chongming. »Was?«
»Warum haben Sie mich nicht angerufen?«
Ich nestelte eine Zigarette hervor, zündete sie an und blies den Rauch in den wolkenlosen Himmel. »Ich - ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher.«
»Als Sie bei Fuyuki waren, haben Sie da irgendetwas entdeckt?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
Er beugte sich vor und senkte seine Stimme. »Wirklich? Sie haben etwas gesehen?« »Nur einen flüchtigen Blick.« »Einen Blick auf was?« »Ich bin nicht sicher - eine Art Glaskasten.«
»Ein Terrarium meinen Sie?«
»Keine Ahnung. Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.«
Ich blies erneut Rauch in die dünne Luft und beobachtete, wie sich der Himmel in den Fenstern der Galerie spiegelte. Jason schlief in meinem Zimmer, lag auf dem Fu-ton. Vor meinem geistigen Auge konnte ich die Landschaft seines Körpers sehen, konnte ihn mir in allen Einzelheiten vorstellen - seinen Arm, der angewinkelt über seiner Brust lag, das Geräusch seiner Atemzüge.
»Auch nicht in einem Zoo?«
Ich sah ihn verständnislos an. »In einem Zoo?«
»Ja«, bestätigte Shi Chongming. »Haben Sie in einem Zoo
schon einmal etwas Ähnliches gesehen? Ich meine, die Art von Terrarium, klimagesteuert möglicherweise.«
»Ich weiß nicht.«
»Waren da Anzeigen? Solche, mit denen man die Luft im
Innern überwachen kann? Oder Thermometer, Luftfeuchtigkeitsmesser?«
»Ich weiß es nicht. Es war ...«
»Ja?« Shi Chongming beugte sich vor und sah mich durchdringend an. »Es war was? Sie haben gesagt, Sie hätten etwas in dem Aquarium gesehen.«
Ich sah ihn verwirrt an. Er irrte sich. Das hatte ich nicht gesagt.
»Vielleicht etwas ...«, er hielt seine Hände hoch und deutete etwas von der Größe einer kleinen Katze an, »... etwa so groß.«
»Nein. Ich habe nichts gesehen.«
Shi Chongming presste fest die Lippen zusammen und sah
mich lange an. Sein Gesicht war vollkommen reglos. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er zog ein Taschentuch aus seinem Mantel und wischte sie eilig ab. »Ja«, sagte er mit einem tiefen Seufzer und steckte das Tuch wieder ein, »ich sehe, dass Sie es sich anders überlegt haben. Stimmt's?«
Ich klopfte die Asche von meiner Zigarette und musterte ihn stirnrunzelnd.
»Ich habe außerordentlich viel Zeit in Sie investiert, und jetzt haben Sie es sich anders überlegt.«
Er verließ das Haus durch die große Pforte, und sofort nachdem er weg war, ging ich nach oben. Die Russinnen wanderten im Haus umher, kochten und zankten sich. Während ich im
Garten gewesen war, hatte Jason Reis, Fisch und eingelegten Daikon für uns besorgt, alles mit einer
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