Tokio
Flasche Pflaumenwein und zwei wunderschönen zartlila Gläsern auf den Schminktisch gestellt und sich dann wieder auf den Futon gelegt. Ich verriegelte die Tür und lief schnurstracks auf Jason zu, wobei ich im Gehen meinen Mantel auszog.
»Also? Wer war der alte Knabe?«
Ich setzte mich, ohne Slip und nur im Unterhemd, rittlings auf Jason und sah ihn an. Er drückte meine Knie auseinander und ließ seine Hände an meinen Beinen hinaufgleiten. Wir blickten beide auf meine langen Oberschenkel.
Ich fand sie zu stramm, zu unmodern und wunderte mich
darüber, dass sie Jason so gut gefielen.
»Wer war der Typ im Garten?«
»Er hat was mit meiner Universität zu tun.«
»Er hat dich angesehen, als würdest du ihm die unglaublichsten Dinge erzählen.«
»Das täuscht«, murmelte ich. »Wir haben uns über sein Forschungsprojekt unterhalten. Das kann man beim besten Willen nicht unglaublich nennen.«
»Gut. Ich mag es nicht, wenn du jemand anders unglaubliche Sachen erzählst. Du verbringst zu viel Zeit mit ihm.«
»Zu viel Zeit?«
»Ja.« Er öffnete unvermittelt seine Hand und hielt sie mir hin. »Siehst du?« »Was soll ich sehen?«
Das gedämpfte Licht schimmerte auf seinen abgebrochenen
Nägeln, während er mit den Fingerspitzen auf der Handfläche spielte, ganz langsam zuerst: winzige Bewegungen. Ich starrte gebannt darauf, als seine Finger sich hoben, hoch in die Luft sausten und schließlich auf Augenhöhe anhielten. Dann flatterten sie träge wie die Flügel eines Vogels, spreizten sich, verschwanden und tauchten wieder auf, wie von einem Lufthauch getragen. Es war Shi Chongmings Zauberkranich. Der Kranich der Vergangenheit.
»Du hast uns beobachtet«, sagte ich, »letztes Mal.«
Jason lächelte, ließ den Vogel einen langsamen, graziösen Sturzflug vollführen und ihn dann kreisend wieder aufsteigen und von neuem hinabsausen. Er bewegte anmutig seine Hand und summte dabei. Plötzlich vollzog der Kranich eine Kehrtwendung, Jasons Finger schnellten vor, und die VogelHand flatterte wild vor meinem Gesicht. Ich wich erschrocken zurück, sprang halb auf.
»Lass das!«, entfuhr es mir. »Tu so was nicht.«
Er lachte, setzte sich auf, packte meine Handgelenke und zog mich wieder zu sich. »Hat dir das gefallen?«
»Du machst dich über mich lustig.«
»Aber nein! Ich mache mich nicht über dich lustig. Ich würde mich nie über dich lustig machen. Ich weiß, wie es ist, wenn man sucht.«
»Nein.« Ich widerstand seinem Ziehen. »Ich verstehe dich nicht.«
Er lachte. »Das kannst du dir abschminken.« Er zog mich
erneut sanft in seine Richtung, legte den Kopf auf den Fu-ton und leckte meine Handfläche, knabberte an ihr. »Du kannst dir abschminken, mir was vormachen zu wollen.«
Ich starrte fasziniert auf seine Zähne, die sauber und weiß
waren. »Ich mache dir nichts vor«, murmelte ich kleinlaut.
»Du hast es für einen Moment vergessen, stimmt's?« Er schob seine Hand zwischen meine Schenkel, vergrub seine
Finger in meinen Schamhaaren, während er mir tief in die Augen sah. Ich legte meine Finger auf seine Lippen, während er sprach. »Du hast für einen Moment vergessen, dass ich dich nur anschauen muss und alles weiß, alles, was in deinem Kopf vorgeht.«
32
Nanking, 19. Dezember 1937, Abend
(der siebzehnte Tag des elften Monats)
Vor vielen Jahrhunderten, als der große Bronze-Azimut von Linfen auf den Purpurberg verlegt wurde, geriet er unerklärlicherweise gänzlich aus dem Lot. Was immer die Astronomen auch taten, er hatte sich entschieden, nicht zu funktionieren. Vor wenigen Momenten spähte ich durch die Fensterläden auf den erhabenen Himmelschronisten und fragte mich, ob er vielleicht, als er auf jenem eisigen Berg seine neue Heimstatt fand, zu den kalt funkelnden Sternen aufgeblickt und dasselbe gesehen hatte wie Shujin: die Zukunft von Nanking. Er hatte die Zukunft der Stadt gesehen und den Mut verloren.
Genug. Ich muss aufhören, an solche Dinge zu denken, an
Geister und Wahrsager und Hellseher. Ich weiß, dass es Wahnsinn ist, und dennoch kann ich mich selbst hier, geborgen in meinem Arbeitszimmer, nicht eines Schauders erwehren, wenn ich daran denke, wie Shujin all dies in ihren Träumen vorhersah. Im Radio berichten sie, dass in der vergangenen Nacht, als Liu und ich auf dem Dach festsaßen, mehrere Gebäude nahe der Flüchtlingszone niedergebrannt sind. Das städtische Gesundheitszentrum von Nanking war eins davon. Wo sollen jetzt die Verletzten und Kranken hingehen?
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