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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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dies die Gefangenen an den äußeren Rändern bemerkten, hoben sie zu ihrem Schutz alles hoch, was ihnen unter die Finger kam - eine Mütze, eine Blechbüchse oder einen Schuh. Die ersten Schüsse krachten über die Köpfe der Menschen hinweg.
    Die Wirkung war erstaunlich. Die Masse bewegte sich wie
    ein einzelner Organismus. Eine Woge formte sich. Die Wucht der Körper hielt die Verletzten und Sterbenden aufrecht, während sich in der Mitte eine Falte bildete, ein Buckel, wo die vorwärts drängenden Leiber einige in der Masse zwangen, übereinander zu klettern. Mehr Schüsse krachten. Selbst über die Schreie hinweg konnte ich das metallische Ratschen der Gewehre hören, die durchgeladen wurden. Und die kleine, aufragende Knospe in der Mitte wuchs und wuchs, während die Menschen auf der Suche nach einem Fluchtweg übereinander stiegen, bis sie sich in einen grausigen menschlichen Turm verwandelten, der sich allmählich himmelwärts reckte wie ein zitternder Finger.
    Wir hörten die Schreie, und neben mir vergrub Liu sein Gesicht in den Händen, während er zu zittern begann. Ich legte ihm nicht tröstend die Hand auf die Schulter, so gebannt war ich von jenem Schauspiel. Der menschliche Wille ist stark, ging es mir durch den Kopf, vielleicht ist er im Stande, in den Himmel hinaufzuklettern, ohne sich an etwas festzuhalten. Vielleicht kann er die Luft erklimmen. Doch nach wenigen Minuten, als die Säule vielleicht sechs, sieben Meter hoch war, brach etwas in ihrem Gefüge zusammen und ließ sie herabstürzen, zermalmte alle unter sich. Binnen weniger Augenblicke formte sich an anderer Stelle ein neuer Turm, richtete sich auf, bis er alsbald steif in den Himmel ragte, wie ein Fleisch gewordener anklagender Schrei: »Warum lässt du das geschehen?«
    Just in diesem Moment entstand nahe dem Haus, auf dem
    wir Zuflucht gefunden hatten, Unruhe. Jemand war aus der Menge ausgebrochen und rannte in unsere Richtung, verfolgt von einer zweiten Gestalt. Ich packte Liu am Arm. »Schauen Sie!«
    Er nahm seine Hände vom Gesicht und blickte mit tränennassen Augen durch den Spalt in der Brüstung. Als die Männer näher kamen, sahen wir einen jungen japanischen Soldaten ohne Mütze, seine Miene grimmig und entschlossen, verfolgt von drei älteren Männern, höher rangigen Offizieren, vermutete ich auf Grund ihrer Uniformen. Schwerter baumelten an ihren Gürteln und behinderten sie beim Laufen, doch sie waren kräftig und groß und holten rasch den fliehenden Mann ein. Einer machte einen Satz nach vorn und packte den Ärmel des Flüchtenden, riss ihn wirbelnd herum, während der junge Soldat hilflos mit seinem freien Arm ruderte.
    Liu und ich duckten uns noch tiefer auf dem einsturzgefährdeten Dach. Die Männer waren nur wenige Meter entfernt. Wir hätten uns über die Kante beugen und sie anspucken können.
    Der Flüchtende stolperte noch ein paar Schritte im Kreis und schaffte es endlich, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Als er zum Stehen kam, stützte er keuchend seine Hände auf die Knie. Der Offizier ließ ihn los und trat einen Schritt zurück.
    »Steh gerade!«, brüllte er. »Steh gerade, du Schwein.«
    Der Mann richtete sich widerstrebend auf und straffte die Schultern. Seine Uniform war zerrissen und verrutscht. Ich war so nah, dass ich die weißen Ringelflechten auf seinem kahl geschorenen Schädel sehen konnte.
    »Was hast du vor?«, donnerte einer der Offiziere. »Du bist aus dem Glied ausgebrochen.«
    Der Soldat wollte etwas sagen, doch er zitterte so sehr, dass er nicht sprechen konnte. Er drehte sich um und blickte zurück auf die infernalische Szene, auf die menschliche Säule, auf Männer, die wie Krähen vom Himmel fielen. Als er sich wieder zu den Offizieren umwandte, hatte sein Gesicht einen so gequälten Ausdruck, dass ich einen Moment Mitleid mit ihm empfand. Tränen glitzerten auf seinen Wangen, doch das schien die Offiziere noch zorniger zu machen. Einer bewegte seinen Kiefer, als würde er mit den Zähnen knirschen. Wortlos zog er sein Schwert. Der junge Soldat wich einen Schritt zurück.
    »Überleg es dir«, schnarrte der Offizier und kam näher.
    »Geh zurück.«
    Der Soldat wich einen weiteren Schritt zurück.
    »Überleg es dir und geh zurück.«
    »Was sagen sie?«, zischte Liu neben mir.
    »Er will die Gefangenen nicht erschießen.«
    »Geh auf der Stelle zurück!«
    Der Soldat schüttelte den Kopf. Das machte den Offizier noch wütender. Er packte den Soldaten an den Ohren und schleuderte

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