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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Unser Kind hätte dort zur Welt kommen sollen. Jetzt können wir nirgendwo hin.
    Liu und ich waren noch immer nicht im Stande, über unsere Zweifel zu reden, selbst nach dem, was wir heute Morgen mit ansehen mussten. Wir brachten noch immer nicht die Worte
    »Vielleicht haben wir uns geirrt« über die Lippen. Als wir am späten Nachmittag entkommen konnten, sprachen wir kein Wort. Wir rannten in Todesangst von Tür zu Tür, und die ganze Zeit über ging mir im Kopf herum: Zivilisten, Zivilisten, Zivilisten. Sie töten Zivilisten. Alles, was ich mir vorgestellt und selbst eingeredet, alles, was ich Shujin zu glauben gezwungen habe, war falsch. Die Japaner sind nicht zivilisiert. Sie schlachten Zivilisten ab. Es waren keine Frauen in jener Menge, doch selbst das ist ein schwacher Trost. Keine Frauen. Ich wiederholte die Worte ein ums andere Mal, während wir zurück zu unseren Häusern flohen: Keine Frauen. Als ich keuchend und mit panischem Blick zur Tür hereinstürzte, fuhr Shujin erschreckt hoch und verschüttete ihren Tee. »Oh!« Sie hatte geweint. Ihre Wangen waren feucht. »Ich dachte, du wärst tot«, sagte sie und machte ein paar Schritte auf mich zu. Dann bemerkte sie meinen Gesichtsausdruck und blieb stehen. Sie hob die Hand und berührte mein Gesicht.
    »Chongming? Was ist denn?«
    »Nichts.« Ich schloss die Tür und lehnte mich dagegen, während ich langsam wieder zu Atem kam.
    »Wirklich. Ich hab gedacht, du wärst tot.«
    Ich schüttelte den Kopf. Sie wirkte sehr bleich, sehr zerbrechlich. Wie verletzlich unsere Instinkte uns doch machen, dachte ich, während ich unverhohlen auf die Stelle starrte, wo unser Sohn ruhte. Schon bald wird sie zwei sein, und es wird zweimal so viel Angst und zweimal so viel Gefahr und zweimal so viel Schmerz geben.
    »Chongming? Was ist passiert?«
    Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen.
    »Was? Um Himmels willen, sag's mir, Chongming.«
    »Es gibt nichts zu essen«, sagte ich. »Ich konnte nichts zu essen finden.«
    »Du bist schnell wie der Wind hierher zurückgerannt, nur um mir zu sagen, dass es nichts zu essen gibt?«
    »Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid.«
    »Nein«, entgegnete sie und sah mich durchdringend an,
    »nein, es ist mehr als das. Du hast es gesehen. Du hast all meine Vorahnungen gesehen, stimmt's?«
    Ich ließ mich mit einem tiefen Seufzer und völlig erschöpft auf einen Stuhl sinken. »Bitte iss die Man-yue-Eier«, sagte ich matt. »Bitte. Tu es mir zuliebe. Tu es für Mondseele.«
    Und zu meiner Überraschung hörte sie auf mich. So als ob sie meine Verzweiflung spürte. Sie aß zwar nicht die Eier, doch sie tat etwas, das mir zumindest ein ganzes Stück entgegenkam. Statt sich in einen abergläubischen Wutanfall hineinzusteigern, verzehrte sie die Bohnen aus dem Kissen, das sie für das Baby angefertigt hatte. Sie schlitzte es auf, schüttete das Gemüse in den Wok und kochte es. Sie bot auch mir welches an, doch ich lehnte ab und beobachtete sie dabei, wie sie es mit völlig ausdruckslosem Gesicht in ihren Mund schob. Mein Magen schmerzte, als hätte ich eine offene Wunde von der Größe eines Kürbisses. So fühlt es sich also an, wenn man verhungert, und dabei bin ich erst seit drei Tagen ohne Nahrung. Und später, als wir uns fürs Bett fertig machten, drang von neuem jener Geruch durch die Fensterläden. Jener köstliche, Schwindel erregende Geruch von bratendem Fleisch. Er trieb mich in den Wahnsinn, ließ mich aufspringen, bereit, auf die Straße hinauszustürmen, ungeachtet der Gefahren, die

    dort lauerten. Erst als ich mich an die japanischen Offiziere erinnerte, die Panzer, das Geräusch der Gewehre, die durchgeladen wurden, sank ich zurück aufs Bett, wohl wissend, dass ich einen anderen Weg finden musste.
    Nanking, 20. Dezember 1937
    Wir schliefen unruhig, abermals mit Schuhen an den Füßen. Kurz vor Morgengrauen wurden wir von markerschütternden
    Schreien geweckt. Sie schienen nur von ein paar Straßen entfernt zu kommen, und es war eindeutig eine Frauenstimme. Ich sah zu Shujin. Sie lag wie erstarrt da, den Blick an die Decke gerichtet. Die Schreie dauerten noch weitere fünf Minuten an, bis sie immer verzweifelter wurden und sich schließlich in Schluchzen verwandelten, das am Ende ebenfalls verstummte. Dann hallte das Dröhnen eines Motorrads auf der Hauptstraße durch die Gasse, ließ die Fensterläden erbeben und die Schale mit Tee auf dem Nachttisch vibrieren.
    Weder Shujin noch ich rührten uns, während wir auf die

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