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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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ich hatte vergessen, wo ich mich befand. Das Dach war schneebedeckt, und die Morgenröte tauchte alles in ein fahles, unnatürliches Rosa.
    »Schauen Sie doch nur«, drängte er. »Schauen Sie!«
    Ich klopfte eilig den Schnee ab, der in der Nacht auf mich gefallen war, und versuchte aufzustehen. Mein Körper war von der Kälte so starr, dass Liu mich bei den Schultern packen und in eine sitzende Position hochhieven musste -mit dem Gesicht nach Westen, so dass ich in Richtung Berg blicken konnte.
    »Der Tigerberg. Sehen Sie?« Ehrfurcht schwang in seiner
    Stimme mit und ließ ihn unsicher klingen. »Sagen Sie mir, Shi Chongming, ist das der Tigerberg, den Sie kennen?«
    Ich blinzelte verschlafen und ein wenig verwirrt. Die Stadtsilhouette war rot von Feuer, als ob wir uns in der Hölle befänden. Der blutfarbene Lichtschein fiel schräg auf den abscheulichen Berg. Und dann erkannte ich, was er meinte. Nein, das war nicht der Tigerberg. Es war etwas gänzlich anderes. Als ob die Erde etwas Giftiges ausgespien hätte.
    »Das kann nicht sein«, flüsterte ich und richtete mich benommen auf. »Allmächtiger Gott, geht meine Phantasie mit mir durch?«
    Es waren hundert, nein, tausend Leichen, achtlos aufgetürmt, eine auf der anderen, zahllose Schichten verrenkter Leiber, ihre Köpfe unnatürlich abgewinkelt, ihre Schuhe an leblosen Füßen baumelnd. Liu und ich waren mit dem Blick auf einen Leichenberg im Mondschein eingeschlafen. Ich kann hier nicht alles niederschreiben, was ich gesehen habe - denn die Wahrheit würde vielleicht das Papier zum Brennen bringen. Da war auch ein Geräusch, ein leises Murmeln, das aus der Richtung des Berges zu kommen schien. Jetzt, da ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ich es schon lange gehört hatte, schon bevor ich aufgewacht war. Ich hatte es in meinen Träumen vernommen.
    Liu stand auf und kroch über das Dach, seine behandschuhten Finger tastend vor sich ausgestreckt. Ich stolperte taub vor Kälte hinter ihm her. Der gesamte Westen von Nanking breitete sich vor uns aus: zu unserer Rechten das graue Glitzern des Jangtse, die schlanke sandfarbene Spitze der Baguashou-Insel, zu unserer Linken die braunen Fabrikschlote von Xiaguan und in der Mitte, etwa einen halben Li entfernt und alles andere überragend, der grausige Leichenberg.
    Wir stützten uns auf die bröckelnde Mauer und streckten ganz langsam, mit angehaltenem Atem, unsere Körper über die Kante. Das Gelände zwischen dem Haus und dem Berg, offenes Brachland, ohne Straßen und Gebäude, wimmelte von Menschen. Sie waren dicht zusammengedrängt, bewegten sich wie eine gigantische Woge, einige trugen Habseligkeiten, Schlafrollen, Kochtöpfe, kleine Säcke mit Reis, so als erwarteten sie, nur ein paar Tage von zu Hause fort zu sein; einige stützten einander, andere drängelten und stolperten. Verstreut dazwischen waren die senfbraunen Mützen der japanischen Offiziere auszumachen, deren Köpfe sich hin-und herbewegten wie eine gut geölte Maschine. Es handelte sich um Gefangene, die zusammengetrieben wurden. Ihre Köpfe wurden von der aufgehenden Sonne beschienen, und obgleich wir ihre Gesichter nicht sehen konnten, wussten wir, was passierte, hörten es in dem leisen Raunen, das sich erhob, als sie die grausame Wahrheit des Berges vor ihnen erkannten. Es war das Geräusch von unzähligen Stimmen, die ihrer Angst Ausdruck verliehen.
    Es waren alles Männer, doch nicht alle schienen Soldaten zu sein. Das wurde alsbald deutlich. Ich konnte graue Köpfe in der Menge ausmachen. »Das sind Zivilisten«, zischte ich Liu zu.
    »Sehen Sie es?«
    Er legte seine Hand auf meinen Arm. »Lieber Shi Chongming«, flüsterte er traurig, »ich habe keine Worte für dies. In Shanghai gab es nichts Vergleichbares.«
    Während wir von unserem Versteck aus das schreckliche Schauspiel verfolgten, müssen jene ganz vorne in der Menge begriffen haben, dass sie in den Tod geführt wurden, denn es brach Panik aus. Schreie ertönten, und die Masse aus Leibern stockte, als die Männer entsetzt vor ihrem Schicksal zurückwichen und verzweifelt versuchten umzukehren. Sie kollidierten mit den Gefangenen hinter ihnen und trampelten sich gegenseitig nieder, während alle in Todesangst versuchten, in verschiedene Richtungen zu fliehen. Als die japanischen Offiziere auf das Chaos aufmerksam wurden, stellten sie sich, wie auf eine stumme Absprache hin, in Hufeisenformation um die Gefangenen auf, pferchten die Menge ein und legten ihre Gewehre an. Als

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