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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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ihn zu Boden. »Überleg es dir!« Er drückte die Sohle seines genagelten Stiefels auf das Gesicht des Soldaten und verlagerte sein Gewicht auf diesen Fuß. Die anderen Offiziere scharten sich dichter um die beiden. »Schwein!« Er drückte fester mit seinem Stiefel zu, so dass eine Wange des jungen Mannes nach vorn geschoben wurde und Speichel über seine Lippen rann. Seine Haut würde bald aufreißen, dachte ich. »Ich gebe dir noch eine letzte Chance - ÜBERLEG ES
    DIR.«
    »Nein«, stammelte er. »Nein.«
    Der Offizier trat einen Schritt zurück und holte mit dem Schwert aus. Hilflos hob der Soldat seine Hand und versuchte, etwas zu sagen, doch der Offizier hatte jetzt Schwung geholt und machte einen Schritt nach vorn. Das Schwert sauste mit funkelnder Klinge herab. Metall traf auf Fleisch. Der Soldat zuckte zusammen und rollte nach vorn, das Gesicht in den Händen vergraben.
    »Nein, Himmel, nein«, flüsterte Liu und hielt sich die Augen zu. »Sagen Sie, ist er tot?«
    »Nein.«
    Der Soldat wälzte und wand sich auf dem Boden. Der Offizier hatte ihm nur eine Ohrfeige mit der flachen Klinge versetzt, doch das genügte, um seinen Willen zu brechen. Als er sich aufrappeln wollte, rutschte er aus und fiel auf ein Knie. Einer der anderen Offiziere nutzte die Gelegenheit, um ihm einen Hieb mit seiner behandschuhten Faust zu versetzen, der ihn rücklings zu Boden warf. Blut spritzte aus seinem Mund. Ich biss die Zähne zusammen. Am liebsten wäre ich über die Mauer gesprungen und hätte mir jenen Offizier vorgeknöpft. Endlich, nachdem er all seine Kraft zusammengenommen hatte, kam der Soldat auf die Beine. Er war in einem erbärmlichen Zustand, zuckte und taumelte, sein Kinn war blutverschmiert. Er hob seine Hand, murmelte etwas, nahm sein Gewehr vom Boden auf und stolperte zurück in Richtung des Massakers. Während er die Waffe mühsam in Anschlag
    brachte, wankte er im Zickzack weiter, so als wäre er betrunken, und feuerte willkürlich eine Salve von Schüssen auf die Menge ab. Ein paar der einfachen Soldaten am Rand der Menge bemerkten ihn, doch als sie der drei Offiziere gewahr wurden, die mit versteinerten Gesichtern dastanden, wandten sie ihre Aufmerksamkeit eilig wieder den Gefangenen zu.
    Die Offiziere verfolgten das Geschehen ohne jegliche Gefühlsregung. Als der Soldat keine Anstalten machte, erneut zu flüchten, bewegten sie sich. Der eine fuhr sich mit der Hand über die Stirn, der andere wischte sein Schwert ab und steckte es zurück in die Scheide, und der Dritte spuckte mit verzerrtem Mund in den Schnee, als könnte er den Geschmack keinen Moment länger ertragen. Dann rückten sie ihre Mützen zurecht und marschierten zurück zu den Gefangenen.
    32
    Sie haben sich verändert.« Shi Chongming saß in einem der Gartenstühle und musterte mich. Er hatte seinen Mantel fest um sich gezogen, und sein weißes Haar fiel lang und glatt über seine Ohren. Rosa Haut, wie die einer Albinoratte, schimmerte hindurch. »Sie zittern.«
    Ich sah auf meine Hände. Er hatte Recht. Sie zitterten. Das kam vom Nahrungsmangel. Am Morgen zuvor, als die Sonne
    aufging, hatten Jason und ich zum Frühstück die Knabbereien aus dem Lebensmittelladen verzehrt. Und das war das letzte Essen, an das ich mich in den vergangenen dreißig Stunden erinnern konnte.
    »Ich finde, Sie haben sich verändert.«
    »Ja«, stimmte ich ihm zu. Ich hatte anderthalb Tage verstreichen lassen, und erst als er mich anrief, erwähnte ich, dass ich bei Fuyuki gewesen war. Shi Chongming hatte sofort vorbeikommen wollen - er war »überrascht«, »enttäuscht«, dass ich ihn nicht schon eher informiert hatte. Ich konnte es nicht erklären, konnte nicht beschreiben, was für ihn nicht sichtbar war - dass sich in nur einem Tag etwas Hartes, Süßes und Altes in mir ausgebreitet hatte und die Dinge, die einst so dringend schienen, nicht mehr wichtig waren. »Ja«, bestätigte ich leise, »ich vermute, das habe ich.«
    Er wartete darauf, dass ich etwas sagen würde, doch als ich schwieg, seufzte er. Er spreizte die Finger und ließ seinen Blick durch den Garten schweifen. »Es ist wunderschön hier«, sagte er. »Niwa, nennen sie den Garten, den reinen Ort. Er hat nichts mit Ihrem vergänglichen Garten Eden im
    Westen gemein. Für die Japaner ist der Garten ein Ort, an dem die Harmonie regiert. Eine makellose Schönheit.«
    Ich betrachtete den Garten. Auch er hatte sich seit meinem letzten Besuch verändert. Alles war in die zarte Glasur des Herbstes

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