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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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roten Schatten starrten, die über die Decke zuckten. Es hatte Berichte gegeben, dass die Japaner Häuser um den Xuanwusee niederbrannten - das konnten doch sicher nicht die Flammen sein, die ich an der Decke reflektiert sah. Schließlich stand Shujin auf und ging zum Küchenherd, in dem nur noch Asche glimmte. Ich folgte ihr und sah zu, wie sie eine Hand voll Ruß nahm und sich damit das Gesicht einrieb, bis sie nicht mehr wiederzuerkennen war. Sie rieb sich auch die Arme und das Haar ein, verteilte den Ruß in den Ohren. Dann holte sie aus dem anderen Zimmer eine Schere, setzte sich in die Ecke der Küche, griff mit ausdrucksloser Miene eine Haarsträhne und schnitt an ihr herum.
    Noch lange nachdem die Schreie verstummt waren, konnte
    ich keine Ruhe finden. Und so sitze ich hier an meinem Schreibtisch, das Fenster einen Spalt geöffnet, und weiß nicht, was ich tun soll. Wir könnten versuchen zu flüchten, doch ich glaube, dass es zu spät ist. Die Stadt ist vollständig abgeschnitten. Der Morgen ist angebrochen, und draußen bahnt sich die Sonne einen Weg durch ein gelbes Miasma, das über Nanking hängt. Woher kommt dieser Nebel? Es ist kein Rauch von den Schloten in Xianguan, der sich mit dem Flussnebel vermischt, denn in allen Fabriken dort ist die Arbeit zum Stillstand gekommen. Shujin würde sagen, dass es die Ausdünstungen aller Untaten dieses Krieges sind, die unbeerdigten Seelen und die Schuld, welche auf
    steigen, bis der Himmel von umher wandelnden Geistern wimmelt. Sie würde sagen, dass sich die Wolken in Gift verwandelt hätten, dass der Natur ein tödlicher Schlag versetzt worden sei, als so viele gemarterte Seelen an einem einzelnen irdischen Ort zusammengepfercht wurden. Und wie könnte ich ihr widersprechen? Die Geschichte hatte mich gelehrt, dass ich, im Gegensatz zu dem, was ich lange angenommen habe, weder tapfer noch weise bin.
    33
    Plötzlich, beinahe über Nacht, hatte ich keine Angst mehr vor Tokio. Es gab sogar Dinge hier, die ich mochte. Mir gefiel zum Beispiel der Ausblick aus meinem Fenster, weil ich schon allein an der blauschwarzen Farbe des Himmels Stunden im Voraus erkennen konnte, wenn im Osten ein Taifun aufzog. Die Wasserspeier auf dem Dach des Nachtklubs schienen ihre Köpfe einzuziehen, und die Gasfontänen, die sich rot gegen den dunklen Himmel abhoben, spuckten und zuckten im auffrischenden Wind, bis jemandem im Gebäude einfiel, sie abzuschalten.
    In jenem Jahr stürzten sich Spekulanten von den Dächern
    der Wolkenkratzer, die sie errichtet hatten, doch ich merkte nichts von der Depression, die sich im Land ausbreitete. Ich war hier glücklich. Mir gefiel, dass mich in den Zügen niemand anstarrte. Ich mochte die Mädchen, die mit ihren übergroßen Sonnenbrillen und bestickten Schlaghosen hüftschwingend die Straße entlangschlenderten. Mir gefiel, dass hier jeder ein wenig eigentümlich war. Den Nagel, der herausragt, trifft der Hammer zuerst. So hatte ich mir die Japaner vorgestellt. Eine Nation, eine Philosophie.
    Ich nahm mir mein Zimmer vor, räumte alle Möbel aus, entfernte den Staub und die Laken, die an den Wänden hingen. Ich schaffte neue Tatami-Matten an, putzte jeden Zentimeter und tauschte die herabbaumelnde nackte Glühbirne gegen eine moderne Fassung aus. Ich mischte Farben an und malte ein Bild von Jason und mir auf die Seide in der hinteren Ecke des Zimmers. Auf dem Bild saß er im Garten neben der Steinlaterne. Er rauchte eine Zigarette und beobachtete jemanden knapp außerhalb des Bildausschnitts.:' Jemanden, der vielleicht umherspazierte oder im Sonnenschein tanzte. Ich stand, bekleidet mit einem schwarzen Suzie-Wong-Kleid aus Satin, hinter ihm und blickte hinauf in die Bäume. Ich malte mich sehr hoch gewachsen, mit vielen Glanzlichtern im Haar und einem Lächeln im Gesicht., Ein Knie war leicht angewinkelt.
    Ich besorgte mir ein Nähetui und Kilos von silbernen und goldenen Perlen von einem Laden namens La Droguerie. An
    einem Samstag band ich mir ein Tuch um den Kopf, zog; eine schwarze Leinenhosen an, wie sie chinesische Arbeiter trugen, und brachte Stunden damit zu, über den gemalten dunklen Gebäuden von Tokio Sternenkonstellationen an den zerrissenen Seidenhimmel zu nähen. Als ich damit fertig war, hatten sich die Risse geschlossen, und der Himmel schmiegte sich flach an die Wand, übersät von glitzern-, den Strömen aus Gold und Silber. Die Wirkung war hypnotisierend - so, als würde ich in einem explodierenden, Stern leben.
    Seltsam fand

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